Brudermord
Bettvorleger und ließ Mick nicht aus den Augen.
Es war weit nach Mitternacht, als Mick schließlich mit einem misstrauischen Blick auf Elise, den diese nicht minder misstrauisch erwiderte, vorsichtig und sorgfältig darauf bedacht, keine hastige Bewegung zu machen, neben Clara ins Bett kroch. Vergeblich versuchte er, einen Zipfel des Lakens zu ergattern, in das sich Clara wie eine Raupe eingewickelt hatte, dann gab er es auf. Er legte den Arm um Clara und schloss die Augen.
Elise wartete noch etwa eine Viertelstunde. Als sich niemand mehr bewegte, stand sie auf, streckte sich gähnend und kroch dann, genauso vorsichtig, wie kurz zuvor Mick, ebenfalls auf das Bett. Zufrieden aufseufzend machte sie es sich am Fußende bequem, wobei sie die ganze Bettbreite in Anspruch nahm und störende Beine und Füße einfach unter sich begrub. Man konnte sich an alles gewöhnen, also wohl auch an diesen Fremden, der sich in letzter Zeit immer häufiger in ihrer trauten Zweisamkeit breitmachte. Sein Bett war zumindest groß genug für drei.
Clara erwachte so plötzlich, als hätte sie jemand geweckt. Mit offenen Augen lag sie einen Augenblick da und lauschte in die Dunkelheit, ob es irgendein Geräusch gab, das sie gestört hatte. Doch es war alles ruhig.
Elise lag schwer auf ihren Beinen und schnarchte. Mick hatte sich neben ihr ausgestreckt und schlief, wie es seine Art war, auf dem Bauch, den Kopf unter dem Kissen vergraben.
Clara zog ihre Beine unter Elise heraus und kletterte aus dem Bett. Ein Blick auf die Leuchtanzeige der Uhr neben Mick sagte ihr, dass es Viertel nach vier war. Ohne Licht zu machen schlich sie durch die dunkle Wohnung und goss sich ein Glas Leitungswasser ein. Das Glas in der Hand ging sie zu einem der beiden großen Fenster und setzte sich mit angezogenen Beinen auf die Fensterbank. Mick wohnte im achten Stock, und von ihrem Platz aus konnte sie die halbe Stadt überblicken, die noch im tiefen Dunkel unter ihr lag.
Sie dachte an die erste Nacht, die sie hier verbracht hatte, als sie ebenfalls am frühen Morgen an diesem Fenster gestanden hatte, hellwach und völlig überrumpelt, ohne auch nur den blassesten Schimmer davon, wie es mit dieser unverhofften Geschichte weitergehen sollte. Das war vor etwa einem halben Jahr gewesen. Viel mehr Ahnung als damals hatte sie heute auch noch nicht. Aber es kümmerte sie nicht mehr. Es war, wie es war.
Sie trank einen großen Schluck und fröstelte etwas, als das kalte Wasser ihre Kehle hinunter rann. Die dumpfe Beklemmung, die sie gestern gepackt hatte, war verflogen. Sie konnte wieder klar sehen, sie spürte sich und die Gegenwart wieder, sogar überdeutlich. Sie hatte einen Schock gehabt. Grubers überfallartiges Eindringen und Ruths Festnahme hatten sie zutiefst verstört. Sie schauderte in Erinnerung daran.
Wie hatte sie nur so unglaublich naiv sein und Gruber vertrauen können? Und dabei konnte sie ihm nicht einmal wirklich böse sein. Es war so, wie er gesagt hatte: Sie beide hatten nie auf der gleichen Seite gestanden. Er hielt Ruth von Anfang an für schuldig, und daran hatte sich nichts geändert. Und es würde sich auch nichts ändern, es sei denn, es stellte sich definitiv heraus, dass er falsch gelegen hatte. Clara starrte in die dunkle Nacht hinaus. Konnte es sein, dass man den heraufziehenden Tag bereits erkennen konnte? Wurde der Himmel nicht schon ein klein wenig heller? Nein, es war nur eine Täuschung. Unten fuhren lautlos ein paar Autos über den Rotkreuzplatz. Frühaufsteher, Spätheimkehrer. Die Autos fuhren wie auf unsichtbaren Schienen, als ob sie den vorgeschriebenen Regeln einer Modellautobahn folgten, dazu die im Rhythmus blinkenden orangenfarbenen Lichter der Ampeln.
Sie musste sich entscheiden. Sollte sie abwarten, Anträge schreiben, Klagen begründen, Gegengutachten in Auftrag geben und hoffen, es sei genug, es sei rechtzeitig, noch nicht zu spät? Das Beste hoffen? Sie biss sich auf die Lippen, bis sie weh taten. Das hatte sie schon viel zu oft getan. Dieses Mal nicht. Sie hatte keine Zeit, auf die Entscheidungen der Richter zu warten, sie hatte kein Vertrauen in die Polizei, keine Hoffnung, dass sie von sich aus zweifeln würden. Jetzt nicht mehr.
Steif kletterte sie von der Fensterbank herunter. Einen Moment blieb sie unschlüssig vor dem Bett stehen und überlegte, ob sie nicht einfach zurückkriechen und noch ein paar Stunden schlafen sollte. Mick stand kaum vor zehn auf, das wusste sie aus Erfahrung. Sie könnte noch
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