Brudermord
nicht.
Hauptkommissar Walter Gruber reagierte mit äußerster Zurückhaltung, als Willi und Mira Brolin zusammen mit Mick, der wütend und eigensinnig darauf bestanden hatte, mitzukommen, in seinem Büro erschienen. Sein ohnehin mürrisches Gesicht verschloss sich noch mehr, als Willi nach der gestrigen Verhaftung fragte.
Ja, Rechtsanwältin Niklas sei anwesend gewesen. Nein, er habe sie nicht informiert, sie habe Ruth Imhofen selbst ausfindig gemacht. Nein, er könne keine Angaben über die genauen Umstände der Festnahme machen, und er wisse nicht, wo sich Frau Niklas derzeit aufhalte.
Mira Brolins Aussage nahm er mit unbewegter Mimik auf. Er stellte ein paar Fragen zu ihrer Person und wollte wissen, warum sie mit der Geschichte erst jetzt rausrückte. Dann ließ er sich eine genaue Beschreibung der Tablettendose geben und notierte sich den Namen des Medikaments, das Dr. Lerchenberg ihres Wissens nach für gewöhnlich genommen hatte. Am Ende ließ er Frau Brolin das Aussageprotokoll unterschreiben und bedankte sich höflich für ihr Kommen.
Sein Gesicht verriet nichts, und auf Willis Nachfrage, was er denn jetzt mit dieser Aussage zu tun gedenke, winkte er ab: keine Auskunft über laufende Ermittlungen.
Als sie gegangen waren, lehnte sich Gruber in seinem Sessel zurück und starrte minutenlang an die Decke. Zum wiederholten Male an diesem Morgen fragte er sich, ob er sich Vorwürfe machen musste. Zum wiederholten Male ging er jeden einzelnen seiner Schritte des gestrigen Tages noch einmal durch. Nein. Er hatte die richtigen Entscheidungen getroffen. Er hatte keinen Fehler gemacht.
Trotzdem fühlte er sich schlecht, um nicht zu sagen, hundsmiserabel. Wenn er an die Frau dachte, die er gestern Abend in der Klinik auf einem einsamen Stuhl in einem kahlen Raum hatte sitzen sehen, wurde ihm übel. Sie war kaum wieder zu erkennen gewesen.
Ihm fiel der Tag ein, an dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Mit diesem beunruhigend direkten Blick hatte sie ihn angestarrt, und er hatte vom ersten Moment an keinen Zweifel gehabt. Diese Frau war schuldig. Er hatte es in allen Knochen gespürt. Als ihm dann außerdem klar wurde, dass der Leiter dieses Hauses, in dem sie sich aufhielt, ausgerechnet jener Dr. Tenzer war, der damals in diesem schrecklichen Vergewaltigungs- und Mordfall das fatale Gutachten erstellt hatte, hätte er am liebsten beide sofort auf der Stelle verhaftet. Und diese lästige, rothaarige Anwältin gleich mit.
Er seufzte. Seine Intuition hatte ihn nicht getäuscht. Weshalb wäre Ruth Imhofen sonst geflohen? Da konnte die Anwältin auf die Tränendrüse drücken, so viel sie wollte: Unschuldiges Opfer, widerfahrenes Unrecht, blablabla. Fast hätte er sich einwickeln lassen von ihrer Geschichte. Fast.
Sein Blick wanderte von der Decke hinunter zu dem Aktenstapel, den ihm Clara an jenem Abend gebracht hatte. Böse Geschichte, was die in dieser Klinik angestellt haben, das musste er schon zugeben. Aber es änderte nichts daran, dass Ruth Imhofen ihren Bruder erschlagen hat. Er sagte es sich immer wieder. Es ändert nichts. Es sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge. Und Mord ist Mord. Wer sonst hätte es tun sollen?
Und dann der Clou! Sie hatten sogar die Tatwaffe gefunden. Man musste schon verrückt sein, sie einfach herumliegen zu lassen und sich dann auch noch am selben Ort zu verstecken. Dumm nur, dass Ruths Fingerabdrücke nicht auf dem Klöpfel waren. Und daran war diese vermaledeite Anwältin schuld. Sie hatte ihn in der Hand gehabt, als sie Ruth verhaftet hatten. Er brauchte gar keinen Vergleich, um zu wissen, dass die Fingerabdrücke auf dem Werkzeug Clara Niklas gehörten. Alles andere war verwischt, zerstört. Womöglich hatte sie es mit Absicht getan?
Gruber schüttelte den Kopf. Nein. Das nicht. Er hatte ihre Angst gesehen, als sie in das Gebäude eingedrungen waren, fast panisch, würde er sagen. Und ihre Fassungslosigkeit, als sie ihn erkannt hatte. Das konnte man nicht spielen. Sie hatte nicht mit ihnen gerechnet. Dabei war einer seiner Beamten ihr die ganze Zeit über gefolgt. Natürlich. Sie hatte ihm etwas verschwiegen, das hatte er sehen können. Ebenso wie ihm von Anfang an klar gewesen war, dass sie ihm das Versteck niemals von sich aus verraten würde. Versprechen hin oder her. Wer hatte hier also wen gelinkt?
Aber warum fühlte er sich dann so schlecht? Warum hatte er das unbestimmte Gefühl, sich schämen zu müssen, für das, was er getan hatte? Er hatte nichts
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