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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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gefahren, und trotz der vielen Pausen, die sie Elise zuliebe eingelegt hatte, war die ungewohnte Fahrt höllisch anstrengend gewesen. Ihre Arme taten ihr weh, und die Beine waren steif und fühlten sich geschwollen an. Sie fuhr langsam durch den kleinen Fischerort, der jetzt nach Saisonende wie ausgestorben wirkte.
    Plötzlich kam sie sich lächerlich vor.
    Was tat sie hier eigentlich? Über tausend Kilometer Fahrt, um jemanden zu finden, der nicht gefunden werden will. Einen Mörder.
    Unwillkürlich musste sie lächeln. »Du bist doch komplett verrückt, Clara Niklas«, murmelte sie in die Dunkelheit hinaus, während sie im Schneckentempo durch die schmalen Gassen kroch, in der Hoffnung, irgendwo das Schild eines Hotels oder einer Pension zu entdecken, die um diese Jahreszeit geöffnet hatten.
    Nach einer knappen halben Stunde Fahrt, die sie immer tiefer in den alten Ortskern hineinführte, wurde sie endlich fündig. Direkt hinter der Kirche, die sich wuchtig über der kleinen Bucht erhob und um die sich die Häuser wie ängstliche Küken geschart hatten, zeigte ein kleines, schwach beleuchtetes Schild an, dass man hier übernachten konnte: Bed and Breakfast stand dort ganz international in verschnörkelten Buchstaben. Erleichtert parkte Clara das Auto auf dem kleinen Platz gegenüber und ließ Elise herausspringen.
    Die Dogge streckte sich ausführlich, gähnte und begann dann sofort, die Nase dicht am Boden, all die fremden Gerüche zu erkunden, die hier in ihre Nase stiegen. Es schien ihr nichts auszumachen, meilenweit entfernt von ihrem Zuhause zu sein, von dem sie heute im Morgengrauen so überstürzt aufgebrochen waren. Sie war dort zu Hause, wo ihr Rudel sich befand, und ihr Rudel war Clara.
    Diese hingegen fühlte sich genau so, wie man sich fühlt, wenn man am Morgen in der vertrauten Umgebung seine Sachen packt, mehr oder weniger mit Vorfreude, und dann irgendwo landet und nicht genau weiß, was man davon halten soll.
    In Claras Fall kam noch dazu, dass es sich hier um keine Urlaubsreise handelte, und die Vorfreude sich daher sehr in Grenzen gehalten hatte. Sie fühlte sich wie irgendwo im Weltall ausgespuckt, vollkommen fremd im wahrsten Sinne des Wortes: Sie sollte gar nicht hier sein. Aber das war ja nun nicht mehr zu ändern.
    Achselzuckend griff sie nach ihrer Tasche, die auf dem Beifahrersitz unter leeren Sandwichverpackungen, Kaugummipapieren und einer französischen 1,5l-Wasserflasche vergraben war, und ging auf die Tür zu, die ein Bett für die Nacht und ein Frühstück versprach. Sie hatte Glück.
    Der Besitzer der Pension, die aus zwei Gästezimmern und einem winzigen Bad im Privathaus der Familie bestand, mochte Hunde. Auch große Hunde, wie er mit einem Blick auf die treuherzig dreinschauende Elise radebrechend auf Deutsch versicherte.
    Clara konnte nur ein paar Brocken Spanisch, ansonsten behalf sie sich mit einer Art spanisiertem Italienisch, was recht gut funktionierte, solange man keine hochphilosophischen Gespräche führen musste. Sie holte ihr weniges Gepäck aus dem Wagen, Elises Sack Trockenfutter, der fast ebenso groß wie ihre Reisetasche war, und sperrte Micks altes Auto, das sie so zuverlässig bis hierher gebracht hatte, mit einem leisen Heimwehgefühl ab.
    Der Vermieter, der Albert hieß, wie er ihr stolz versicherte, nein, nicht Alberto, sondern katalanisch Albert, empfahl ihr das Restaurant seines Bruders ganz in der Nähe und händigte ihr dann den riesigen Haustürschlüssel aus. Frühstück morgens bis elf, nickte er noch an der Zimmertür, wünschte ihr »eine schöne Abend!« und ging.
    Clara sah sich um: Ein kleines, altmodisch eingerichtetes Zimmer mit einer hohen Decke und ohne die geringste Aussicht: Das einzige Fenster ging direkt in eine schmale Seitengasse hinaus, und man hatte das Gefühl, die Mauer des gegenüberliegenden Hauses mit den Händen berühren zu können.
    Über dem Bett hing ein traurig dreinblickender Jesus mit einem leuchtend roten Herzen auf der Brust, das von einem Strahlenkranz umgeben war, und ein großes Bild über dem Schreibtisch zeigte zwei kleine Kinder, die an einem furchterregenden Abgrund standen und sich ängstlich an den Händen fassten. Über ihnen schwebte ein goldener Engel mit riesigen Flügeln und breitete schützend die Hände über ihre blond gelockten Köpfe.
    »Der soll lieber aufpassen, dass sie nicht vor Schreck doch noch hinunterfallen, wenn sie ihn sehen«, murmelte Clara respektlos und stand dann ächzend auf, um ihre

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