Brudermord
wenigen Sachen auszupacken. Die alte Akte Imhofen, die den Mord an Udo Reimers betraf, legte sie unter den schafsgesichtigen Schutzengel auf den Schreibtisch. Diese Akte hatte sie Gruber nicht gegeben, da sie mit Selmany und der Klinik nichts zu tun hatte. Außerdem hätte sie sie schon längst dem Gericht zurückbringen müssen, und Gruber hätte sicher darauf bestanden. Morgen würde sie die einzelnen Berichte noch einmal lesen, bevor sie sich auf die Suche nach Pablo machte, und versuchen, sich auf Ruths wirres Gerede von gestern einen Reim zu machen. Sie hatte sich Ruths Worte so genau wie möglich aufgeschrieben, doch außer der durch Lio Winter schon bekannten Tatsache, dass Ruth sich an jenem Abend mit Jakob Schelling gestritten und ihn offenbar irgendwann weggeschickt hatte, war sie bisher nicht schlau daraus geworden.
Sie öffnete das Fenster und sah hinaus auf die weiße von Kabeln und maroden Leitungen überzogene Mauer des Nachbarhauses, die durch eine funzelige Straßenlaterne orange beleuchtet wurde. Die Luft war kühl und schmeckte salzig, und Clara konnte schwach das Rauschen des Meeres hören. Sie drehte sich nach Elise um, die unschlüssig mitten im Raum stand und offenbar nicht wusste, ob sie sich gleich auf das ausladende, aus dunklem Holz gezimmerte Doppelbett werfen oder aus Höflichkeit noch etwas warten und sich einstweilen scheinheilig auf dem kalten, harten Fliesenboden kauern sollte.
Clara hörte eine Weile ihrem Magen zu, der jetzt, nachdem sie zur Ruhe gekommen war, vehement gegen die klebrigen Sandwiches und Schokoriegel protestierte, die sie ihm während der Fahrt als Essensersatz untergeschoben hatte, und nachdrücklich darauf bestand, endlich auch auf seine Kosten zu kommen.
Sie stand auf und griff nach ihrem Mantel. »Steh auf, Dicke. Lass’ uns das Restaurant von Alberts Bruder suchen«, forderte sie Elise auf, und beim Gedanken an Tapas, Hühnchen und Paella mit Meeresfrüchten lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Von dem guten, schweren Rotwein dazu ganz zu schweigen.
Sie fand Pablos Spur am nächsten Morgen. Nach einem üppigen Frühstück, das schon fast ein Mittagessen gewesen war und bei dem sich die Frau von Albert vorgenommen zu haben schien, ihren einzigen Gast alles aufzutischen, was die katalanische Küche hergab, begab sich Clara mit dem Gefühl, auf einen Schlag sechs Pfund schwerer geworden zu sein, auf einen Erkundungsgang durch den Ort. In einer Bar in der Nähe des Hafens bestellte sie sich einen tintenschwarzen cafè solo und setzte sich damit an den einzelnen klapprigen Metalltisch an der Hausmauer. Direkt vor ihr lag das Meer. Eingerahmt von der schützenden Bucht, in die sich das Dorf schmiegte, gab es einen kleinen Sandstrand. Streunende Hunde liefen herum und kläfften den Wind an, und ein umgedrehtes Ruderboot mit Namen Jordi, dessen leuchtend roter Lack bereits abzublättern begann, duckte sich in Erwartung der kommenden Winterstürme in den Sand.
Der Himmel war von einem unentschlossenen kühlen Blau, und eine frische Brise trieb kleine, hektische Wellen aus dem Meer in die Bucht. In regelmäßigen Abständen wehte die Gischt sogar bis zu der Bar herüber. Nach kurzer Zeit waren Claras Haare und ihr Gesicht mit einem feinen Netz aus Feuchtigkeit überzogen, und wenn sie sich die Lippen leckte, schmeckte sie das Salz und den feinkörnigen Sand, den der Wind mitgenommen hatte. Sie reckte ihr Gesicht dem Schauer entgegen, genoss das Gefühl, dass ihre Haut und ihre Haare sich vollsogen mit der frischen Feuchtigkeit wie Kakteen in der Wüste bei einem lang ersehnten Regenschauer.
Sie hatte das Gefühl, die letzten Tage wie im Fieber verbracht zu haben. Ihre rastlose Suche in München erschien ihr aus der Ferne wie ein verrückter Tanz ohne Pause, wie das sinnlose Umherrennen einer Tanzmaus im Käfig. Sie hatte einmal gelesen, dass Tanzmäuse nichts anderes als die absichtliche Weiterzüchtung normaler Mäuse mit einer krankhaften Mutation des Gehirns waren, die sie zu diesem unaufhörlichen, wirren Herumlaufen zwangen. Es war kein Tanz, sondern wilde Verzweiflung, die die Mäuse umhertrieb. Eine weitere Art der vielen als Züchtung getarnten Möglichkeiten, Tiere zu quälen, Akte der Grausamkeit, die Kinder zum Lachen bringen sollten. Einer ihrer Freunde aus der Kindheit hatte einmal so eine Maus besessen, und sie hatten ihr ein Labyrinth gebaut aus Kartons und leeren Toilettenpapierrollen. Dort war sie dann umhergelaufen, unablässig, ziel- und
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