Brudermord
falsch gemacht. Alles war korrekt abgelaufen und hatte zum Ziel gehabt, eine des Mordes verdächtige, womöglich geisteskranke und somit gefährliche Frau zu finden und sie in Gewahrsam zu nehmen. Zum Schutz der Öffentlichkeit und zu ihrem eigenen Schutz.
Er lehnte sich etwas beruhigt zurück. Das klang gut. Das klang fast fürsorglich. Zu ihrem eigenen Schutz . Denn es hätte ja wer weiß was noch alles passieren können. Was hätte diese Frau nicht alles anstellen können! Pater Roman kam ihm unvermittelt in den Sinn. Dachten denn diese Gutachter nicht daran, was passieren könnte? Dachten sie denn nicht daran, was für eine Verantwortung sie hatten? Nach bestem Wissen und Gewissen. Diese Formel fiel ihm ein. Er, Gruber, hatte nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Um Schlimmeres zu verhindern.
Und trotzdem fühlte er sich schlecht. Plötzlich kam ihm ein neuer, verstörender Gedanke: Hatte Pater Roman damals, als er noch Dr. Tenzer war, nicht auch nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt? Doch er hatte falsch gelegen. So falsch, dass es einem zwölfjährigen Mädchen das Leben gekostet hatte.
Nach bestem Wissen und Gewissen.
Gruber fühlte sich auf einmal unwohl. Es gab keine Garantie dafür, das Richtige zu tun. Selbst wenn man sich die größte Mühe gab. War es möglich, dass er falsch lag? War es möglich, dass ihn sein Gefühl und alle Indizien trogen?
Um sich abzulenken, nahm er sich die Aussage der jungen Pflegerin, die soeben da gewesen war, noch einmal vor. Kopfschüttelnd las er Mira Brolins Angaben. Warum kamen diese Leute immer so spät? Warum zögerten sie nur so lange?
Er suchte sich die Akte Ralph Lerchenberg noch einmal heraus und las den Obduktionsbericht. Man hatte im Blut des Toten einen Wirkstoff namens Zopiclon in hoher Konzentration gefunden. Dieses Schlafmittel sei hocheffizient und beispielsweise als Einschlafhilfe auf Langstreckenflügen sehr beliebt, da es außerordentlich schnell, mitunter sogar innerhalb weniger Minuten wirke. Nachdem es hochgefährlich war, so ein Mittel einzunehmen, bevor man sich ans Steuer eines Autos setze, hatte der Rechtsmediziner auf eine Verwechslung getippt. Die Tabletten seien unauffällig weiß und klein und ähnelten einer Vielzahl anderer Medikamente, wie sie in Kliniken wie Schloss Hoheneck verwendet wurden.
Was aber, wenn es kein Versehen, sondern Absicht gewesen war? Gruber klopfte nachdenklich mit dem Kugelschreiber auf Mira Brolins Aussage. Die junge Frau hatte durchaus glaubwürdig geklungen.
Er rief Armin Wölle an, Spezialist für derartige Analysen im LKA und ein guter Freund Grubers und nannte ihm den Namen des Medikaments, das Ralph Lerchenberg für gewöhnlich genommen hatte. Dann fragte er ihn, ob in diesem Medikament womöglich auch der Wirkstoff Zopiclon enthalten sei.
Als Antwort lachte sein Freund belustigt auf. Nein, mit Sicherheit nicht. Das sei ein ganz leichtes pflanzliches Präparat zur Beruhigung der Nerven, weit entfernt von der chemischen Keule, die man in Lerchenbergs Blut nachgewiesen hatte.
Gruber bedankte sich und legte auf. »Chemische Keule«, murmelte er vor sich hin, und das Wort rief ein erneutes Unbehagen bei ihm hervor. Unwillkürlich musste er an die reglose Ruth Imhofen in dem Beobachtungsraum der Klinik denken, wo er sie gestern zurückgelassen hatte. Im Glauben, sie in gute Obhut gegeben zu haben. Unter Beobachtung. Unter Fachleuten, die »mit so etwas« umzugehen wussten.
Er dachte an Claras Blick, wie sie Ruth angesehen hatte, als man sie abführte. Sie hatte etwas gesehen, was ihr Angst gemacht hatte. Ihr verrückter Versuch, noch mit der Frau zu reden, sie zu erreichen …
Gruber schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Zweck, das alles abermals durchzugehen. Man würde sich um Ruth kümmern. Sie war dort fürs Erste gut aufgehoben. Und später, wenn die ärztlichen Gutachten da waren, würde man weiter sehen. Das war Sache der Richter. Ihn ging das dann nichts mehr an. Er konnte von Glück sagen, wenn er von der Staatsanwaltschaft überhaupt erfuhr, wie der Prozess ausgegangen war und es nicht erst in der Zeitung lesen musste.
Er zwang seine Aufmerksamkeit fast gewaltsam weg von Ruth Imhofen und richtete sie erneut auf das Aussageprotokoll, das vor ihm lag. Dann stand er auf und verließ sein Büro, um bei der Staatsanwaltschaft höchstpersönlich einen Haftbefehl gegen Dr. Viktor Selmany zu beantragen.
Als Clara in Cadaqués ankam, war es schon später Abend. Sie war den ganzen Tag
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