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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Roman am Telefon gesagt. Was auch immer das heißen mochte. Doch er kümmerte sich um sie, hatte schon mit den Ärzten in der Klinik gesprochen, und er würde sie wieder besuchen. Das war gut. Beruhigend.
    Ihr Gespräch mit Willi dagegen verlief etwas anders als geplant. Eigentlich hatte sie nur kurz Bescheid geben wollen, dass es ihr gut gehe und sie morgen Abend wieder zurück sei. Doch als sie seine aufgeregte Stimme hörte und die Sorge darin, die sich mit Erleichterung mischte, konnte sie einige Sekunden lang erst einmal überhaupt nichts sagen. Plötzlich kamen ihr ihre Streitereien und Eifersüchteleien der letzten Tage so lächerlich vor. Sie schluckte, als sie spürte, wie ihr die Tränen in den Hals stiegen, und sagte schnell: »Es tut mir leid, ich war so hirnverbrannt, entschuldige bitte.« Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.
    »Was?«, rief Willi aufgeregt ins Telefon. »Ich verstehe dich ganz schlecht, Clara! Wo bist du denn, verdammt noch mal? Mick ist vor Sorge ganz aus dem Häuschen. Er glaubt, du bist irgendwie verrückt geworden. Er hat sogar deine Mutter angerufen, aber die hat nur gelacht und gemeint, an solche Eskapaden sollte er sich mal schnell gewöhnen, wenn er vorhat, mit dir zusammenzubleiben. Und dann hat sie ihn zum Geburtstag deines Vater eingeladen, für den Fall, dass du es vergessen solltest.«
    Clara musste wider Willen lachen. Typisch ihre Mutter. Sie schniefte. »Könntest du - äh - bitte, wenn es dir nichts ausmacht, Mick Bescheid geben?«, fragte sie schließlich verlegen.
    Willi schnaubte. »Ich denke, das solltest du mal besser selbst in die Hand nehmen.«
    Clara stiegen erneut Tränen in die Augen, ohne dass sie genau hätte sagen können, weswegen sie eigentlich heulte. »Ich weiß, aber ich kann das jetzt nicht so am Telefon, bitte Willi, bitte tu mir den Gefallen und sag ihm … ähm, sag ihm …« Sie verstummte.
    »Schon kapiert«, brummte Willi. »Ich werd’s ihm ausrichten. Hättest du vielleicht noch die Güte, mir zu sagen, wo du eigentlich steckst?«
    »In Cadaqués«, sagte Clara schnell, und als nach einer kurzen Schrecksekunde auf der anderen Seite der Leitung Willis Stimme losdröhnte: »In Spanien? Du bist in Spanien? Sag mal, Clara, hast du sie nicht mehr alle? Was um alles in der Welt …«, legte sie auf.
     
    Am Nachmittag bewölkte sich der Himmel über der Bucht mit dünnen Schleierwolken, und der Wind, der seit gestern unablässig geweht hatte, legte sich plötzlich. Eine lauschende, abwartende Stille lag über dem Dorf, und der Himmel schien weiter entfernt zu sein als sonst. Wie ein weites, glattes Tuch wölbte er sich über dem Meer, ohne die geringste Falte oder Unebenheit. Das seltsame, statische Licht, das dadurch entstand, verlieh dem Meer einen leuchtenden Grünton, und die sonst weißen Fassaden der Häuser wirkten fahlgelb. Clara hob immer wieder den Kopf und sah nervös hinauf, während sie mit Elise am Strand entlangging. Etwas Bedrohliches schien in der Luft zu liegen.
    Als sie an der Bar anlangte, an der sie gestern bereits einen Kaffee getrunken hatte, blieb sie stehen. In der Ferne zog die Silhouette eines großen Schiffes vorüber, wie ein Schatten ohne Tiefe, blassgrau und ohne Konturen. Statt eines Kaffees bestellte sie dieses Mal einen Fino, diesen staubtrockenen Sherry, der hier überall getrunken wurde. Blassgelb, fast durchsichtig, sah er in dem kleinen hübschen Glas harmlos aus, umso überraschender war deshalb der intensive Geschmack nach Holz und Rauch, irgendwie modrig und gleichzeitig erfrischend. Sie trank ihn zu schnell, zu ungewohnt war er für sie, und nach kurzem Zögern bestellte sie sich ein zweites Glas, an dem sie langsam und genussvoll nippte.
    Der Fernseher war heute ausgeschaltet, stattdessen las der junge Mann in der Zeitung, die er zwischen der Spüle und der Gläserablage ausgebreitet hatte. Clara fragte ihn nach dem merkwürdigen Himmel, und sein Blick wanderte zu der offenen Tür.
    » Sì «, nickte er. »Wir werden Sturm bekommen. In der Nacht. Vielleicht sogar schon heute Abend.«
    Sturm. Wie passend, dachte Clara und nahm noch einen kleinen Schluck Sherry. Zum tausendsten Mal fragte sie sich, wie der heutige Abend verlaufen würde. Sie hatte versucht, sich eine Strategie zu überlegen, um Jakob Schelling davon zu überzeugen, sich zu stellen. Sie hatte sogar einen kurzen Moment daran gedacht, die spanische Polizei zu informieren und ihn verhaften zu lassen. Doch davon war sie schnell

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