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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Telefon und fügte ungnädig hinzu: »Gottverdammter Idiot«, wobei er damit mehr sich selbst meinte als den verdatterten Arzt.
     
    Als Clara an diesem Abend Miguels Bar betrat, erwartete Pablo sie bereits. Er saß an dem selben kleinen Tisch wie am Vortag, vor sich eine Tasse Tee. Das Päckchen mit den Briefen lag neben der Tasse auf dem Tisch. Clara fand, dass er ein klein wenig besser aussah als am Tag zuvor, sein Blick schien klarer zu sein, wenngleich seine Haut noch immer die Farbe von vergilbten Bettlaken hatte.
    Sie nickte ihm zu und setzte sich auf den zweiten Stuhl, ihm gegenüber. Elise streckte sich neben ihr aus. Mit Blick auf seinen Tee bestellte sie keinen Wein, sondern Wasser, und nach einem kurzen fragenden Blick zwei Gläser. Vielleicht würde er ja mehr oder weniger nüchtern bleiben heute Abend. Zumindest schien er das vorzuhaben, da wollte sie seinen Vorsatz nicht ins Wanken bringen.
    Miguel brachte eine Flasche Mineralwasser und stellte ihnen das übliche Knabberzeug hin.
    Clara hatte keinen Hunger. Am Nachmittag hatte sie versucht, etwas zu essen und sich ein Weißbrotsandwich mit Tomaten und Schinken gekauft, doch nach einer halben Stunde lustlosem Herumgeknabbere hatte sie das halbe Brot Elise überlassen. Trotzdem bestellte sie jetzt bei Miguel eine große Portion Vorspeisen für beide. Schinken, Oliven, Feigen, Brot, Käse. Sie hatte den Eindruck, als könne der Mann, dem sie gegenübersaß, durchaus ein paar Happen gebrauchen.
    Schweigend warteten sie auf das Essen. Pablo, der mindestens so nervös zu sein schien wie Clara, griff immer wieder nach den Briefen, schob sie ein wenig hin und her, als wolle er sie in die richtige Position bringen, dann wanderten seine großen, irgendwie steif wirkenden Hände zurück zu seiner Tasse und umschlossen sie, aber er trank nicht.
    Nach einer Weile sagte er: »Ich habe sie gelesen. Ich habe jeden Einzelnen von ihnen gelesen.«
    Clara bemerkte, dass er Tränen in den Augen hatte. Sie senkte den Blick auf ihren Teller, wollte ihm Zeit geben, sich zu fangen, wollte ihn nicht beschämen, indem sie ihn anstarrte, Zeugin seines Schmerzes wurde.
    Als sie sich ihm jedoch wieder zuwandte, hatte er sich nicht bewegt, keine Anstalten gemacht, die Tränen wegzuwischen, die ihm jetzt langsam, eine nach der anderen seine zerklüfteten Wangen hinunterliefen und von seinem Rübezahlbart verschluckt wurden. Pablo war längst jenseits davon, sich von so etwas wie ein paar Tränen in der Öffentlichkeit beschämen zu lassen.
    Clara knabberte an einer Feige herum und sagte dann: »Sie haben Ruth vor drei Tagen verhaftet.«
    Pablo starrte sie an. »Sie ist wieder … eingesperrt?«
    Clara nickte: »Wegen des Mordes an Johannes Imhofen. Sie glauben, dass Ruth es gewesen ist. Sie hatte sich in Ihrer Werkstatt versteckt, dort haben sie sie gefunden.«
    Sie unterdrückte den stechenden Schmerz, der sie bei dem Gedanken daran, dass sie diejenige gewesen war, die die Polizei zu ihr geführt hatte, durchfuhr, und sprach schnell weiter: »Aber sie war es nicht, nicht wahr? Sie haben Johannes Imhofen erschlagen. Mit Ihrem Bildhauerwerkzeug.«
    Pablo starrte sie noch immer an, doch er sah sie nicht. Er sah in die Ferne, sein Blick blieb von etwas gefangen, das nur er sehen konnte. »Sie war bei mir«, begann er zögernd, als müsse er die Worte erst suchen, sie von irgendwoher holen. »Sie war bei mir vor … zwei oder drei Wochen. Plötzlich stand sie in der Tür. Ruth. Nach all den Jahren. Zuerst habe ich geglaubt, sie sei so etwas wie ein Geist. Ich sehe manchmal solche Dinge, wenn ich zu viel Schnaps trinke, dann weiß ich nicht mehr, ist das die Wirklichkeit oder ein Traum?
    »Was wollte sie von Ihnen?«, fragte Clara leise.
    »Sie … wollte mich nur sehen, glaube ich. Mich wiedersehen.« Er senkte den Kopf. »Sie hat wohl nicht ganz das gesehen, was sie erwartet hatte.«
    »War sie wütend auf Sie?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein. Sie war … sie war langsam, sie bewegte sich merkwürdig. Aber trotzdem war sie noch die Ruth, die ich …« Er stockte, und seine Stimme erstarb zu einem Flüstern: »… die ich geliebt habe. Ich habe sie sofort wieder erkannt. Wir haben uns angesehen, eine ganz lange Zeit haben wir uns nur angesehen. Sie stand in der Tür, ohne sich zu rühren, in einem alten Jogginganzug, aber ihre Augen waren die gleichen. Dann hat sie angefangen zu reden. Wir haben stundenlang geredet …« Er brach ab und verbarg den Kopf in seinen Händen.
    »Sie hat

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