Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
Vom Netzwerk:
beiden Fenstern seines Büros auf und ab. Er hatte sich gekümmert, verdammt noch mal. Er hatte Ruths Einlieferung persönlich überwacht und mit den Ärzten gesprochen. Er hatte darum gebeten, sofort informiert zu werden, falls sich in Ruths Verhalten irgendetwas ändern sollte, was Anlass zur Sorge gab.
    Er lachte bitter auf. Als ob ihr Verhalten nicht schon die ganze Zeit Anlass zur Sorge gegeben hätte. Als ob man dieses leblose Vor-sich-hin-Stieren überhaupt Verhalten nennen konnte.
    Er blieb stehen und sah auf die Uhr. Halb sechs. Der Arzt würde wohl noch da sein. Irgendjemand würde da sein. Er ging zurück zum Schreibtisch und wählte die Nummer auf der Visitenkarte, die neben dem Telefon lag. Eine kurze Nachfrage, nichts weiter. Nur damit er endlich beruhigt nach Hause gehen konnte.
     
    Der Arzt, den er schließlich nach mehreren Verbindungsversuchen seitens der Telefonzentrale in der Leitung hatte, gab sich zunächst nichtssagend zugeknöpft. Ja, der Patientin gehe es den Umständen entsprechend, man müsse abwarten, bevor man Näheres über ihre psychische Verfassung sagen könne, noch sei sie sehr verschlossen, wirke traumatisiert …
    »Traumatisiert?«, hakte Gruber nach. »Inwiefern traumatisiert?«
    Der Arzt hüstelte, offensichtlich konsterniert darüber, dass man das Geplätscher seiner wohlausgefeilten Worthülsen so rüde unterbrach. »Ich weiß nicht, ob das jetzt am Telefon in Kürze verständlich dargelegt werden kann …«
    »Das lassen Sie mal meine Sorge sein«, knurrte Gruber wütend. Wenn er etwas nicht ausstehen konnte, dann waren das Mediziner, die glaubten, der Rest der Welt bestünde aus debilen Einfaltspinseln.
    »Nun ja, Herr Kommissar, ich werde es versuchen.« Der Arzt hüstelte erneut, und Gruber sah es fast vor sich, wie er genervt auf die Uhr schaute, seinen Mantel schon in der Hand.
    »Also, die Patientin hat ein sehr eingeschränktes Reaktionsspektrum gegenüber ihrer Umwelt, sie ist dissoziativ …«
    »Und was heißt das?«, schnauzte Gruber.
    Der Arzt seufzte demonstrativ. »Hören Sie, Herr Kommissar, es ist Freitagabend, können wir das nicht am Montag in aller Ruhe …«
    »Nein. So lange kann ich nicht warten.« Und Ruth auch nicht, schoss es ihm durch den Kopf, und ihm wurde bewusst, dass es genau das gewesen war, was Clara ihm bei der Verhaftung so verzweifelt hatte sagen wollen.
    »Also gut: Das bedeutet, sehr vereinfacht ausgedrückt, dass sie sich selbst entfremdet ist, man spricht hier auch von Depersonalisation …«
    »Und das bedeutet konkret?« Gruber ließ nicht locker.
    »Frau Imhofen kann sich und ihre Situation nicht mehr einordnen, ihre Wahrnehmung gegenüber ihrer eigenen Persönlichkeit, ihr Denken und Fühlen ist gestört, sie fühlt sich selbst nicht mehr zugehörig …« Der Arzt stockte, überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Es scheint so, als habe sie den Bezug zu sich selbst vollkommen verloren. Es besteht keine Verbindung mehr zwischen ihren Gefühlen und ihrer Wahrnehmung, zwischen Körper und Geist. Sie sagt beispielsweise, ihr Innen habe keine Farben mehr. Man kann auch sagen, es hat gewissermaßen eine Entkoppelung stattgefunden …«
    Gruber hörte nicht mehr zu. Die Wiedergabe von Ruths Worten durch den Arzt hatten in ihm etwas in Bewegung gebracht: Ein Satz brannte ihm auf einmal im Gedächtnis. Ein Satz, den er sich von den Briefen, die Clara ihm gegeben hatte, sogar abgeschrieben hatte, weil er dieses andere Mädchen, Maja betraf. Während der Arzt weiterdozierte, blätterte Gruber in seinen Unterlagen herum. Dort, dort war der Zettel.
    Gruber zog ihn heraus, las den Satz: Ihre Farben gehen …
    Er ließ den Zettel sinken. Das war es, was die Anwältin gesehen hatte, deshalb war sie so erschrocken gewesen. Sie hatte begriffen, dass Ruths Geist dabei war aufzugeben, und sie hatte versucht, sie zurückzuholen. Und er hirnverbranntes Rindvieh hatte es nicht kapiert.
    »Wer ist bei ihr?«, fragte Gruber unvermittelt, und das unbehagliche Gefühl, das ihn schon den ganzen Nachmittag gequält hatte, verwandelte sich angesichts des erschrockenen Zögerns des Arztes in Übelkeit.
    »Wie meinen Sie das, bei ihr?«, fragte der Arzt nach ein paar Schweigesekunden zurück. »Ich verstehe nicht ganz …«
    »Sie wird doch überwacht? Jemand sieht regelmäßig nach ihr?«
    »Nun ja, sie hat eine Klingel, und wir haben natürlich eine Nachtschwester, die den Dienst von der Tagschicht übernimmt …«
    »Ich komme!«, raunzte Gruber ins

Weitere Kostenlose Bücher