Brudermord
planlos, und man hatte das Geräusch der kleinen Füße auf dem Karton hören können.
Clara stand auf und ging in die Bar. Der mürrische junge Mann hinter dem Tresen würdigte sie keines Blickes. Er lehnte an der Kaffeemaschine und starrte auf den Fernseher, der oben in der Ecke des Raumes hing. Als Clara noch einen Kaffee bestellte, nickte er nur kurz, ohne den Blick abzuwenden, und setzte sich dann widerstrebend in Bewegung.
Clara nutzte den kurzen Moment, in dem er ihr die kleine Tasse zusammen mit einem Glas Wasser hinstellte und seine Aufmerksamkeit von dem Geschehen im Fernseher abgelenkt war, und fragte ihn nach Jakob Schelling. Ein Deutscher, Künstler.
Der Mann schüttelte gleichgültig den Kopf. »No sé«, murmelte er und fügte mit einer wegwerfenden Handbewegung hinzu, jedes Jahre wimmle es hier von Deutschen, Touristen, Künstlern, alles Mögliche. Da könne man sich unmöglich einen Einzelnen merken.
»Er ist kein Tourist. Er müsste jetzt da sein!«, wandte Clara ein und überlegte. Wie mochte Jakob Schelling nach all den Jahren aussehen? Sie machte eine Handbewegung: »Er ist groß.« Vielleicht, fügte sie in Gedanken verzagt hinzu, vielleicht aber auch nicht. »Und er trinkt.«
Der junge Mann sah ein, dass er das Fernsehprogramm für eine Weile würde vergessen können, und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. »Hat er einen roten Bart?«
Clara nickte. Sie wagte kaum zu atmen. Sie kramte aus der Innentasche ihrer Jacke das Foto hervor, das Lio Winter ihr gegeben hatte, und legte es auf den Tresen. »Das ist er vor fünfundzwanzig Jahren. Er heißt Jakob Schelling.« Sie sprach den Namen langsam und deutlich aus. Der Mann musterte das Foto, dann nickte er zögernd. »Könnte sein, dass er es ist. Ein Verrückter. Er kommt seit vielen Jahren, den kennen alle hier. Ich weiß aber nicht, ob er so heißt, wie Sie sagen. Alle nennen ihn nur Pablo.«
Dann deutete er zu der schmalen Straße hinaus, die an der Bar vorbei in einem Bogen am Strand entlang und dann hinauf in die Altstadt führte. »Dort drüben ist Miguels Kneipe«, erklärte er ihr, nun, da ein Ende der Störung in Sicht war, um einiges bereitwilliger. »Da können Sie ihn finden. Jeden Abend sitzt er dort und trinkt.« Er machte eine Handbewegung, als ob er einen Schnaps kippen wollte.
Clara bedankte sich mit vor Aufregung heißen Wangen und bezahlte ihren Kaffee.
Der junge Mann schob die Münzen mit einer Hand über den blankgeputzen Tresen und ließ sie in seinen Geldbeutel fallen. Dann wandte sich seine Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher zu.
Clara nahm ihre Tasse und das Wasser mit nach draußen und setzte sich zurück an ihren Platz neben der Tür. Die Sonne schien jetzt durch die dünnen Wolkenfetzen hindurch und wärmte ein wenig. Sie trank den Kaffee aus und zündete sich eine Zigarette an. Dabei sah sie auf die Uhr: halb eins. Nur noch wenige Stunden, dann würde sie ihm begegnen. Ihr Magen machte einen kleinen Satz, als sie daran dachte. Wie würde er reagieren, wenn er erfuhr, weshalb sie gekommen war? Was würde passieren?
Sie stand auf und gab der dösenden Elise einen forschen Klaps. Wie viel Schlaf benötigte eigentlich so ein Hund? Der Wind fuhr ihr heftig durch die Haare und ins Gesicht, als sie mit der grauen Dogge eng an ihrer Seite hinunter zum Strand stapfte.
Ruth stand am Fenster. Schon seit Stunden stand sie dort. Zumindest glaubte sie das. Die Zeit entglitt ihr zusehends. Wie lange dauerte ein Tag? Wie lange die Nacht? Das Fenster war ein anderes. Kein Krähenfeld lag davor. Stattdessen sah sie eine hohe Betonmauer, Stacheldraht. Und auch hier Gitter vor den Fenstern. Sie hatte vergessen, warum sie hier war. Manchmal schien es ihr fast einzufallen, aber dann, immer wenn sie kurz davor war, danach zu greifen, verschwand der Gedanke wieder.
»Mein Geliebter«, flüsterte sie. Eines der wenigen Worte, die noch übrig geblieben waren in dem leeren Raum, der ihr Geist geworden war. Eine stille Kammer. »Mein Geliebter …«
Wer war er gewesen? Wann hatte sie ihn gekannt?
»Ich hole ihn zurück.«
Auch das Worte, die ab und zu auftauchten und mit denen sie nichts anfangen konnte. Die Stimme, die diese Worte sprach, war nicht die ihre. Sie hatte eine andere Farbe, aber sie konnte die Farbe nicht benennen.
Sie konnte überhaupt keine Farben mehr benennen. »Mein Innen hat keine Farben mehr«, hatte sie heute zu dem Arzt gesagt, der versucht hatte, mit ihr zu reden.
»Dann kommen Sie doch heraus«,
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