Brudermord
hatte er vorgeschlagen.
So ein Idiot. Als ob das so einfach wäre. Sie hatte schließlich nur noch ihr Innen. Ein graues, leeres, stilles Innen und kein Außen.
Später hatte er ihr ein paar Stifte und ein Blatt Papier gegeben. »Vielleicht möchten Sie Ihrem Innen ja ein bisschen Farbe geben.«
Sie hatte gelacht. Der Mann war zu albern. Wie sollte sie ihr Innen anmalen? Ihr Blick war über die nutzlosen Stifte gewandert und an dem letzten, dem roten Stift hängen geblieben. Es waren dicke Holzfarbstifte, allesamt schön säuberlich gespitzt. Von dem Moment an hatte sie gewusst, was noch zu tun war. Etwas gab es noch, etwas Letztes, Wichtiges. Als er einen Moment lang nicht aufpasste, ließ sie den roten Stift in ihren Ärmel gleiten. Sie hatte Übung darin. Früher hatte sie auch immer Stifte gebraucht. In dem Zimmer mit dem Krähenfeld davor.
Jetzt stand sie am Fenster und versuchte, sich an den Namen zu erinnern. Sie brauchte den Namen. Wenn sie schon ihre Farbe nicht mehr wusste, dann doch wenigstens den Namen. Doch ihr Innen blieb leer. Sie musste sich konzentrieren. Sie musste dabeibleiben. Ein letztes Mal noch. Sie spürte, wie sie zu schwitzen begann. Nicht aufregen. Nicht aufregen. Sie hielt sich die Fäuste an die Schläfen und schüttelte den Kopf. Nicht aufregen. Nicht aufregen. Sie musste sich beruhigen. Wenigstens das konnte sie noch. Sich beruhigen. Leise begann sie zu flüstern.
Als Clara nach dem Treffen mit Pablo zurück in ihre Pension ging, fühlte sie sich wie gerädert. Sie hatte versucht, sich darauf vorzubereiten. Sich irgendwie zu wappnen. Doch es hatte nichts genützt. Aus diesem Menschen, diesem strahlenden, kraftvollen jungen Mann auf dem Foto, war ein Wrack geworden. Spindeldürr und bleich, dazu dieser wilde, ungepflegte Bart, der längst nicht mehr kupfern leuchtete wie auf dem Bild. Jetzt hatte er die Farbe von Mörtel und Ziegelstaub, durchsetzt mit schmuddelig gelblichen Strähnen. Seine Augen, die in tiefen Höhlen lagen, waren unstet und verwaschen, ebenso seine Sprache.
Sie hatten nicht viel gesprochen. Irgendwann hatte Clara ihm die Briefe hingeschoben. Sie wollte, dass er sie las, bevor sie redeten. Zwei Tage hatte sie ihm Zeit gegeben, bis übermorgen, um sie zu lesen und sich zu entscheiden. Dann würde sie zurückfahren. Mit oder ohne ihn. Und mit oder ohne die Briefe.
Sie wusste, dass sie damit ein hohes Risiko einging. Ohne die Briefe würde sie nie beweisen können, was passiert war. Ohne die Briefe würde auch Maja endgültig in Vergessenheit geraten. Sie hatte lange darüber nachgedacht und überlegt, Kopien der Briefe anzufertigen, doch dann hatte sie sich dagegen entschieden. Diese Briefe waren, bei aller Beweiskraft, zunächst einmal etwas zutiefst Privates. Es waren Liebesbriefe. Und sie gehörten Pablo. Mochte er damit anstellen, was er wollte. Sie hoffte natürlich, er würde mit ihr kommen. Würde sich seiner Verantwortung stellen. Doch sie wusste nicht, wie er sich entscheiden würde. Nachdem sie ihn heute Abend kennengelernt hatte, zweifelte sie bereits an seiner Fähigkeit, überhaupt eine Entscheidung zu treffen und sei es nur, das Paket zu öffnen und einen der Briefe zu lesen. Vielleicht würde er sich stattdessen, wie vermutlich jeden Abend, bis zur Besinnungslosigkeit betrinken und die Briefe auf dem Tisch liegen lassen, sie einfach vergessen …
Sie schüttelte den Kopf. »Zwei Tage. Dann ist es vorbei«, sagte sie laut. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Übermorgen würde sie nach Hause fahren, so oder so. Sie würde seine Entscheidung akzeptieren, auch wenn sie bedeutete, dass er einfach verschwinden, nie wieder auftauchten würde, und Ruths Briefe mit ihm.
Ruth starrte den Mann an, der vor ihr stand, breit wie ein Schrank. Er trug Jeans und einen Rollkragenpullover aus dicker Wolle. »Pater … Roman …«, sagte sie leise, und irgendwo in ihrem Kopf regte sich etwas, wie ein Flügelschlag im Gebälk, ein leichtes Flattern, kaum zu hören, dann war wieder Stille.
Pater Roman reichte ihr seine Hand. »Guten Morgen, Ruth. Clara Niklas lässt dich grüßen. Sie hat mich heute Morgen angerufen, und ich soll dir sagen, dass sie dich in ein paar Tagen besuchen kommt.«
»Clara.« Ruth sah zum Fenster hinaus. Das war er. Der Name, der ihr gefehlt hatte. Ihre Finger tasteten nach dem Bleistift in ihrem Ärmel. Jetzt war alles gut. Sie lächelte. »Clara.«
Clara atmete tief aus. Ruth ging es »den Umständen entsprechend«, hatte Pater
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