Brudermord
wieder abgekommen. Wie sollte sie denen alles erklären? Es würde eine Ewigkeit dauern, bis sie sich verständlich gemacht hätte. Außerdem, und das war, wenngleich kein sehr vernünftiger, für sie aber der ausschlaggebende Grund, wollte sie es nicht tun. Basta. Es erschien ihr nicht richtig. Es sollte seine eigene Entscheidung sein. Und vor allem wollte sie endlich die ganze Geschichte erfahren: von ihm selbst und nicht aus irgendwelchen Akten.
Seit sie dies für sich entschieden hatte, hatte sie nicht weiter über eine Strategie nachgedacht. Stattdessen war sie mit Elise durch das Dorf gewandert, durch die engen Gassen, hinauf in die Hügel und am Ende wieder zum Strand. Sie würde heute Abend in diese Kneipe gehen und auf ihn warten. Und dann würde man weiter sehen.
Kommissar Gruber war nervös. Irgendetwas stimmte nicht, etwas machte ihn unruhig und hielt ihn davon ab, nach Hause zu gehen. Dabei hätte er zufrieden sein können. Die gestrige Verhaftung Dr. Selmanys war einem Paukenschlag gleichgekommen. Wie ein Lauffeuer hatte die Nachricht die Runde gemacht, und seit heute Morgen standen die Telefone nicht mehr still. Neben Journalisten hatten sich auch ehemalige Patienten der Klinik gemeldet und wollten über ihre Erfahrungen berichten.
Eine junge Beamtin war eigens dazu abgestellt worden, diese Anrufe entgegenzunehmen, sie zu protokollieren und etwaige Spinner auszusortieren. Wobei, Letzteres war in einem solchen Fall nicht ganz einfach. Grubers frühere Definition davon, wer oder was verrückt war, hatte sich in den letzten Wochen unmerklich verschoben, und plötzlich ertappte er sich immer öfter dabei, dass er sich, wenn er mit der Kollegin die einzelnen Aussagen durchging, nicht sicher war, was er davon halten sollte. Öfters als früher entschied er, eine Aussage nachzuprüfen, einem Vorwurf nachzugehen, auch wenn er auf den ersten Blick abenteuerlich klang.
Früher hätte er für solche Zweifel nur Verachtung übriggehabt. Und jetzt war er selbst drauf und dran, so ein Zögerer und Zauderer zu werden, über die er sich immer lustig gemacht hatte. Einer, der sich nicht ganz sicher war, der plötzlich Angst hatte, Fehler zu machen. Und, das erstaunte Gruber am meisten, dieses Verhalten fühlte sich irgendwie sogar richtig an. Der Boden tat sich nicht unter ihm auf, um ihn zu verschlingen, wenn er sich gestattete, Zweifel zuzulassen. Er fühlte sich nicht schwächer, wenn er versuchte, sich Dinge vorzustellen, die bisher außerhalb seiner Vorstellungskraft gelegen hatten. Im Gegenteil.
Trotzdem. Das Unbehagen, das ihn heute Nachmittag unvermittelt befallen hatte, blieb. Und wurde stärker, je mehr er versuchte, es mit vernünftigen Argumenten zum Schweigen zu bringen: Er hatte alles richtig gemacht. Alles beachtet. Nichts übersehen.
Nichts übersehen?
Clara fiel ihm wieder ein, wie sie sich bei Ruths Verhaftung so verzweifelt bemüht hatte, mit ihrer Mandantin zu sprechen, sie zu erreichen. Was hatte sie damit bezweckt? Wovor hatte sie Angst gehabt?
Er hatte schon versucht, Clara in ihrer Kanzlei anzurufen und ihr von Selmanys Verhaftung zu berichten, wenngleich er befürchtet hatte, sie würde sich weigern, überhaupt mit ihm zu sprechen. Doch die Sekretärin hatte ihm nur kühl mitgeteilt, Frau Niklas sei »verreist«. Was auch immer das heißen mochte. Wahrscheinlich stimmte es sogar, denn ihr Kompagnon und dieser andere Typ waren ja sogar bei ihm gewesen und hatten nach Clara gefragt.
Wo konnte sie nur sein? Was hatte sie vor? Gruber war natürlich nicht entgangen, dass das Siegel an der Werkstatttür abgerissen worden war, und er hegte keinerlei Zweifel daran, wer das getan hatte.
Die Kollegen von der Spurensicherung hatten schon einen gewaltigen Anpfiff kassiert, weil sie erst mit einer Stunde Verspätung dort angekommen waren. Und sich selbst hatte er ebenfalls Vorwürfe gemacht, weil er mit Ruth mitgefahren war, anstatt dort zu bleiben und auf seine Kollegen zu warten. Was für ein beschissener Anfängerfehler. Das lag alles nur daran, dass er ein schlechtes Gewissen gehabt hatte. Wegen Ruths Verhaftung und der Verachtung in Claras Augen. Er hatte zeigen wollen, dass er sich kümmerte. Persönlich kümmerte. Dass er nicht dieser Mistkerl war, den diese Anwältin in ihm sah. Und sie hatte diesen Fehler sofort ausgenutzt und war in die Werkstatt eingedrungen. Weiß der Himmel, was sie dort gesucht hatte. Verdammte Scheiße.
Gruber stand auf und lief die wenigen Schritte vor den
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