Brudermord
Ihnen von der Klinik erzählt, nicht wahr?«
Pablo nickte und ließ die Hände sinken. »Ich wusste das alles nicht. Nichts davon wusste ich.« Er begann zu weinen.
Er wusste es nicht. Clara fielen Ruths Worte wieder ein, und sie nickte: »Erzählen Sie doch von Anfang an«, bat sie. »Wir haben genug Zeit. Erzählen Sie mir von der Party vor vierundzwanzig Jahren.«
Und Pablo begann zu erzählen. Er konnte erstaunlich gut erzählen. Mitunter stockte sein Redefluss ein wenig, er brauchte Zeit, die richtigen Worte zu finden, Clara konnte sehen, wie er in seinem Geist herumkramte wie in einer alten Kiste, die man vom Speicher geholt hatte. Der Alkohol hatte eine Schneise geschlagen, hatte vieles von dem zerstört, was sich einmal in den Kisten befunden hatte. Doch langsam wurde seine Erzählung flüssiger, mit jedem Wort begannen sich die eingerosteten Räder ein wenig leichter in Bewegung zu setzen, und er fand bessere, treffendere Worte.
»Ruth war ein Vogel«, sagte er schließlich. »Einer dieser Vögel, die am schönsten aussehen, wenn man sie fliegen sieht. Fängt man sie, dann flattern sie nur kopflos herum, stoßen gegen die Wände und Fenster und verlieren ihre Anmut. Sie konnte nicht glücklich sein. Es war so, als gäbe es für sie nichts Einfaches, nichts Klares.« Er jedoch hatte sich in dem Moment verliebt, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, doch nicht im Traum daran gedacht, dass sie einmal ein Paar würden.
»Aber an der Nordsee, dort waren Sie glücklich, nicht wahr?«, fragte Clara.
Pablo nickte. »Dort schon.« Kurze Zeit später bekam er dieses Angebot, nach Rom zu gehen und ein halbes Jahr dort bei einem Bildhauermeister zu lernen. Ruth hatte für ihn diese Party organisiert, eine Abschiedsfete bei ihr zu Hause. Am nächsten Morgen um halb sieben ging sein Zug nach Rom.
»Das Fest war ein Reinfall. Udo Reimers ist aufgetaucht und hat mit seinen Szenen die Party gesprengt. Er konnte sich nicht damit abfinden, dass Ruth nichts mehr von ihm wissen wollte. Ich wollte ihn rauswerfen, aber Ruth war dagegen. Ich glaube, er tat ihr irgendwie leid. Dabei hat er sie regelrecht verfolgt, er war so ein besitzergreifender, klammernder Typ und konnte echt unangenehm werden.«
Pablo ließ den Kopf sinken und starrte auf seine Hände. »Wir haben uns den ganzen Abend gestritten, ich war eifersüchtig, ich Trottel, habe gemeint, wenn sie mich liebt, dann müsse sie den Kerl jetzt rauswerfen.« Er schüttelte den Kopf und lachte bitter auf. »Ruth ließ sich nicht unter Druck setzen. Noch nie. Am Ende hat sie mich rausgeworfen.«
»Und Sie sind gegangen und haben sie vierundzwanzig Jahre nicht mehr gesehen?«, fragte Clara ungläubig.
Pablo schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe sie an dem Abend noch mal gesehen. Ich bin zurückgekommen.«
Clara hielt unmerklich die Luft an, als Pablo einen Schluck Tee nahm und dann weitersprach. »Ruth hatte viel zu viel getrunken, das hat sie auf solchen Partys oft, und wohl auch noch einiges anderes genommen. Jetzt glaube ich, sie war einfach nur unglücklich, weil ich wegfahren wollte. Aber ich war damals zu blöd, um das zu erkennen. Ich hätte die Sache irgendwann einfach gut sein lassen sollen. Aber ich habe nicht aufgehört. Irgendwann sind die letzten Gäste gegangen, nur Udo war noch da und lümmelte auf der Couch. Ich war eifersüchtig, habe ihr sonst was an den Kopf geworfen. Sie hat mir eine Ohrfeige gegeben und gemeint, wenn ich sowieso abhauen wollte, dann könne ich es auch gleich tun. Danach hat sie sich im Badezimmer eingesperrt. Udo hat mich ausgelacht, hat gemeint, das war’s dann wohl und ich solle jetzt Land gewinnen.«
Clara starrte ihn an. »Und dann haben Sie ihn …«
Pablo lächelte traurig. »Nein. Ich habe ihn nicht umgebracht. Ich hätte es vielleicht tun sollen, dann wäre Ruth viel erspart geblieben und mir vielleicht auch. Ich habe ihm keine Antwort gegeben, habe versucht, sein dummes Gerede zu ignorieren. Aber ich wollte die beiden nicht allein lassen. Doch dableiben wollte ich auch nicht. Also habe ich Johannes Imhofen angerufen und ihn gebeten, sich um seine Schwester zu kümmern, es gehe ihr nicht so gut.«
Clara schüttelte verwirrt den Kopf. »Sie? Sie haben Johannes Imhofen angerufen? In der Akte stand, Ruth habe das getan, nachdem es bereits passiert war. Das hat Imhofen so ausgesagt.«
Pablos Gesicht verzog sich zu einer bitteren Grimasse. »Richtig. Das hat er so ausgesagt. Und ich, ich erbärmlicher Feigling war nicht
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