Brudermord
verursachte ihr ein tiefes Unbehagen. Spontan beugte sie sich vor und drückte einen Augenblick Ruth Imhofens Hände, die noch immer so stark ineinander verknotet waren, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie waren eiskalt.
»Ich weiß noch nicht viel über Ihre Geschichte, Frau Imhofen«, sagte Clara zögernd. »Aber ich werde es herausfinden. Sie können mir vertrauen.« Die Frau wandte sich ihr wieder zu, und Clara konnte die Verzweiflung in Ruth Imhofens Augen sehen. Sie sah einen Hilferuf, der keinen Ausdruck fand, der nicht nach außen dringen konnte, sondern im Inneren dieses versteinerten Körpers gefangen war wie in einem Käfig. Clara hatte geglaubt, die langsamen Bewegungen der Frau seien auf eine Krankheit zurückzuführen, Rheuma oder etwas Vergleichbares, doch jetzt begann sie zu ahnen, dass es nicht nur ein körperliches Gebrechen war, das sie lähmte. Es war ihr Geist, der sie zwang, ihre Bewegungen auf ein Minimum zu beschränken. Sie hatte sich zurückgezogen in ihr Inneres, hatte ihren Körper fast vollkommen verlassen, lebte an einem weit entfernten Punkt irgendwo in ihrer Seele, wo nichts sie erreichen konnte. Ihre Bewegungslosigkeit war keine Krankheit, sie war ein Panzer. Wie der einer Schildkröte. Ihr Körper versuchte sie zu schützen, versuchte, etwas am Leben zu erhalten. Clara schluckte und zog unwillkürlich ihre Hand zurück. Was war mit dieser Frau geschehen? Was hatte man ihr angetan?
Clara verabschiedete sich mit einem zittrigen Lächeln von Ruth Imhofen, die kaum reagierte, und versprach ihr, in den nächsten Tagen wiederzukommen. Ihr Magen war wie zugeschnürt, als sie den langen klösterlichen Gang zurückging und nach Elmar Ausschau hielt. Sie fand ihn unten im Erdgeschoss, wo ein kleiner Aufenthaltsraum eingerichtet war mit Fernseher, Büchern und einem Kaffeeautomaten. Elmar saß mit einem kahlköpfigen Mann an einem der niedrigen Tische und spielte Backgammon. Clara blieb zögernd an der Tür stehen und sah den beiden zu. Sie waren vollkommen in ihr Spiel vertieft. Außer den beiden war noch eine Frau in dem Raum, die einen Plastikbecher mit Kaffee in beiden Händen hielt und reglos hineinstarrte, ohne zu trinken. Sie war hager mit knochigen Schultern, die eckig unter einem billigen blauen Strickpullover hervorstachen. Als sie Clara bemerkte, lächelte sie ihr unvermittelt zu und entblößte dabei eine ganze Reihe von Zahnlücken. Clara erwiderte das Lächeln und entschloss sich, auf Elmar zu warten. Sie konnte nicht nach Hause gehen, bevor sie mit jemandem über Ruth gesprochen hatte. Der Kaffee schmeckte, wie alle Getränke aus solchen Automaten schmecken: heiß, dünn und bitter. Sie nippte vorsichtig daran, jedoch nicht vorsichtig genug, verbrannte sich die Zunge und verzog schmerzhaft das Gesicht.
»Mieses Gesöff, nich wahr?« Die Frau mit den Zahnlücken musterte sie von oben bis unten und stellte dann fest: »Sie wohn’ aber nich hier.«
Clara schüttelte den Kopf und setzte sich in einen der Sessel gegenüber der Frau. »Nein. Ich habe eine Mandantin besucht, ich bin Anwältin.«
Die Frau pfiff durch die wenigen ihr verbliebenen Zähne. »Ich wette, das is die Schnecke.«
»Luzie!« Der Tadel kam von Elmar, der stirnrunzelnd von seinem Spiel aufgeblickt hatte. »Wir hatten doch was ausgemacht, oder?«
Die Frau winkte ab. Ihre Arme waren so dünn wie die eines Kindes. »Is ja gut, hab ja nix gesagt.«
Clara warf ihr einen neugierigen Blick zu: »Meinten Sie Frau Imhofen?«, wollte sie wissen.
Die Frau nahm einen Schluck aus dem Kaffeebecher und wischte sich dann mit dem Handrücken über den Mund. »Sag ich doch«, murmelte sie achselzuckend und schielte zu Elmar hinüber. »War doch klar, dass bald einer von euch hier aufkreuzen wird, nix für ungut.« Sie beugte sich vor und richtete ihre Augen direkt auf Clara. Sie waren wässrig blau und blutunterlaufen. Clara konnte ihren Atem riechen. Er roch nach Kaffee und schlechten Zähnen. »Wird se jetz’ eingesperrt oder kommt se wieder zurück in de Klapse?«
Clara stutzte: »Wieso eingesperrt…«, begann sie, doch sie wurde von Elmar unterbrochen, der sein Spiel mit dem Kahlköpfigen beendet hatte und zu ihnen herübergekommen war.
»Luzie«, sagte er ruhig. »Lass die Dame in Frieden, sie möchte nur in Ruhe ihren Kaffee trinken.«
Clara schüttelte den Kopf: »Nein, lassen Sie nur, das ist schon in Ordnung …«
Doch Luzie stand widerspruchslos auf und entfernte sich, leise vor sich hin
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