Brudermord
erkennen, was er von Selmanys Andeutungen hielt. Dann schüttelte er energisch den Kopf. »Niemals.«
Clara war verwirrt. Diese Antworten widersprachen so offensichtlich Selmanys Beschreibung von Dr. Lerchenberg, dass sie das Gefühl hatte, über zwei verschiedene Menschen zu sprechen »Aber er hatte offenbar Probleme mit seiner Arbeit …«, begann sie erneut und wurde von Pater Roman unterbrochen.
»Aber diese Probleme waren anderer Art. Ralph war Psychiater. Er hat seine Verantwortung gegenüber den Patienten sehr ernst genommen. Vielleicht zu ernst.« Pater Roman schüttelte erneut den Kopf. »Das ist wohl das Einzige, was man ihm vorwerfen kann. Egal, was dieser Pfuscher jetzt für Lügen über ihn verbreiten mag.«
Clara nickte frustriert. Es war offensichtlich, dass sie von Pater Roman kein schlechtes Wort über Ralph Lerchenberg hören würde. Sie sehnte sich nach einer Zigarette. »Können Sie mir irgendetwas über Ruth Imhofen sagen?«, fragte sie ohne große Hoffnung.
Pater Roman stand auf. »Ich glaube, ich würde jetzt gerne einen ordentlichen Kaffee trinken. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir unser Gespräch in dem Café nebenan fortsetzten?«
Das Café war winzig, es beherbergte nur drei Tische, die aussahen, als habe sie der Besitzer vom Sperrmüll gerettet, sie waren bunt bemalt mit Blumen, Punkten und Streifen. Der Cappuccino kam in großen, unterschiedlichen Tassen und war stark und gut. Clara zündete sich eine Zigarette an und sah sich interessiert um: Es gab Regale an den Wänden, die die verschiedensten Dinge beherbergten: Marmelade in kleinen Gläsern, Fantasietiere aus Stoff mit Glöckchen und Bommeln daran, selbstgestrickte Strümpfe, Postkarten, Kekse in Cellophanpapier, Holzspielzeug.
Pater Roman war ihrem Blick gefolgt: »Ein ehemaliger Bewohner unseres Hauses hat das Café mit unserer Unterstützung eröffnet. Er hatte auch die Idee, hier Dinge zu verkaufen, die unsere Schützlinge selbst herstellen.«
Clara war aufgestanden, um sich die Sachen näher zu betrachten. Sie griff nach den Postkarten, die passend zur kommenden Weihnachtszeit mit Glitzersternen beklebt waren. »Hat Ruth auch etwas beigesteuert?«, fragte sie.
»Ruth? Nein. Es ist noch zu früh, sie muss sich erst einmal daran gewöhnen, nicht mehr in der Klinik zu sein.«
Clara suchte ein paar von den Socken in ihrer Größe heraus und nahm sie mit zurück an ihren Platz. »Wie lange war sie denn dort?«
Pater Roman sah sie an: »Sie wissen wirklich überhaupt nichts von dieser Sache, oder?«
Clara hob die Hände. »Ich sagte Ihnen doch schon …«
Der Pater winkte ab. »Das soll kein Vorwurf sein, bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Vielleicht ist es sogar besser, jemand geht ganz unvoreingenommen an diese Geschichte heran …«
Clara spürte, wie ihre Ungeduld zurückkam. Konnte denn wirklich niemand mit ihr Klartext reden?
Pater Roman strich sich über seinen kahlen Schädel und seufzte. »Ich kann Ihnen dazu nicht viel sagen. Ralph war sehr verschlossen, was seine Patienten anbelangte.« Er wich Claras zweifelndem Blick aus und starrte in die Tiefen der leeren Kaffeetasse. Nach einer langen Pause fuhr er fort: »Ruth Imhofen hat Ralph sehr beschäftigt. Es war ein … nun, ein spezieller Fall. Es kann gut sein, dass er sich etwas zu sehr hineingesteigert hat. Das passiert manchmal in unserem Beruf, wissen Sie? Man kann eine Sache nicht wieder loslassen, sie verfolgt einen mehr, als es gut für einen ist.«
Clara lächelte bitter: »So etwas kenne ich.«
Der Pater nickte. »Sie wissen, wovon ich spreche. Der Fall Ruth Imhofen war nicht gut für ihn. Er ist da in Dinge eingetaucht, die er nicht mehr beherrschen konnte, die zu tief gingen … Er konnte nicht aufhalten, was danach passiert ist. Dabei hat er nur das Beste gewollt.«
Clara betrachtete den großen, kräftigen Mann nachdenklich. Er wirkte wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung, den nichts erschüttern konnte. Doch hatte Clara das Gefühl, mit dieser Beschreibung meinte er nicht nur Ralph Lerchenberg, sondern mehr noch sich selbst.
»Was ist passiert?«, fragte sie. »Was ist so besonders an Ruth Imhofen?«
Pater Roman faltete seine großen Hände und seufzte: »Ruth Imhofen ist seit ihrem dreiundzwanzigsten Lebensjahr in stationärer psychiatrischer Behandlung. Sie galt als nicht therapierbar.«
Clara verschluckte sich an ihrem Kaffee. »Seit …«, sie rechnete schnell nach, »seit vierundzwanzig Jahren? Ist das
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