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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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unberechenbar«, hatte er sie genannt und war davon ausgegangen, dass sie bald wieder nach Schloss Hoheneck zurückkehren würde. Clara hatte sich erkundigt: Die psychiatrische Klinik Hoheneck hatte sich auf schwere Fälle spezialisiert. Geschlossene Abteilungen, intensive Betreuung, höchstmögliche Sicherheit für die Patienten. Was auch immer das bedeuten mochte. Clara hatte nur eine vage Vorstellung vom Alltag in einer psychiatrischen Klinik, und diese Vorstellung war wenig angenehm. Doch Frau Imhofen war per Gerichtsbeschluss vor drei Wochen entlassen worden. Offenbar galt sie für das Gericht als geheilt. Weshalb wurde dann aber jetzt wieder eine Betreuung angeordnet?
    Clara drückte auf den Klingelknopf. Man konnte den melodischen Ton im Inneren des Hauses hören, dann ertönte ein leises Summen, und Clara drückte die Tür auf.
    Ein junger Mann in Karohemd und Jeans kam auf sie zu. Seine braunen Haare waren im Nacken zu einem dichten, lockigen Pferdeschwanz zusammengebunden, um den ihn so manches Mädchen beneidet hätte. »Sie sind Frau Niklas?«, begrüßte er sie und reichte ihr die Hand.
    Clara nickte. Sie hatte sich zuvor telefonisch angekündigt.
    »Ich bin Elmar.« Er lächelte und entblößte ein paar extrem schiefe Schneidezähne. »Zivi.« Er hielt ihr zuvorkommend eine Glastür auf und sagte: »Ich bringe Sie am besten gleich zu Frau Imhofen.« Clara folgte ihm eine Treppe hinauf in den ersten Stock, dann einen langen Gang entlang, von dem an beiden Seiten einige Türen abgingen. Neben den Türen an der Wand hingen kleine Namensschilder. Elmar blieb vor der letzten Tür auf der linken Seite stehen und klopfte. Ruth Imhofen stand auf dem weißen Schild, und neben den Namen hatte jemand einen Baum gezeichnet. Clara berührte diese kleine Bleistiftzeichnung merkwürdig. Sie war mit viel Sorgfalt gefertigt, man konnte jeden Ast erkennen, der Baum trug winzige Blätter und Früchte, und am Fuß seines mächtigen Stammes verzweigten sich filigrane Wurzeln.
    Ein leises »Ja bitte« ertönte, kaum zu hören, doch Elmar genügte es. Er öffnete die Tür und sagte: »Dein Besuch ist da, Ruth.«
    Clara trat neben ihn und spähte vorsichtig in den Raum hinein. Niemand war zu sehen.
    Elmar deutete mit dem Kopf hinter die Tür. »Ruth kann es nicht leiden, wenn man sie sofort sieht, wenn die Tür aufgeht.« Er wandte sich zum Gehen: »Ich lasse Sie jetzt mal alleine, ja?«
    Clara nickte, obwohl es ihr lieber gewesen wäre, Elmar wäre dageblieben. Unsicher trat sie ein. »Frau Imhofen?«, sagte sie leise und sah hinter die Tür.
    Dort, in einem Stuhl direkt an der Wand, saß eine dunkelhaarige Frau und starrte Clara mit weit aufgerissenen Augen an. Sie trug einen ausgeleierten Jogginganzug, der ihr viel zu groß war, und billige weiße Turnschuhe. Die dichten, glanzlosen Haare waren nachlässig auf dem Hinterkopf zu einem Knoten zusammengesteckt, dünne Strähnen hingen heraus wie Strohhalme aus einem schlecht gebauten Vogelnest. Dabei musste Ruth Imhofen einmal sehr hübsch gewesen sein. Vor langer Zeit. Die hohen Wangenknochen und der große, ausdrucksvolle Mund erinnerten noch schwach daran, doch jetzt war die Haut fahl und hatte jede Spannkraft verloren. Ihr Gesicht wirkte ebenso grau und alt wie ihr Jogginganzug. Umso beklemmender waren daher ihre Augen: Weit aufgerissen starrten sie Clara an, dunkel vor Angst, wie die Augen eines Pferdes im Anblick höchster Gefahr. Sie hielt sich mit beiden Händen an der Sitzfläche des Stuhles fest, als befürchtete sie, man könnte sie wegzerren.
    Clara machte einen Schritt zurück und war für einen Augenblick versucht, die Frau zu beruhigen wie ein Tier, das in die Ecke gedrängt worden war, mit besänftigenden Lauten, schh, schh, doch sie riss sich zusammen und reichte ihr stattdessen nur die Hand. »Guten Tag, Frau Imhofen, ich bin Clara Niklas.«
    Die Frau ergriff ihre Hand nicht. Unbeweglich wie aus Stein saß sie auf dem Stuhl und hielt ihre Augen unverwandt auf Clara gerichtet. Unbehaglich erwiderte Clara den Blick eine Weile, als jedoch nichts geschah, wandte sie sich ab und sah sich in dem Zimmer um. Es war ein schöner, heller Raum mit Blick auf die Bäume und den Fluss. Auf der einen Seite war ein schlichtes Bett an die Wand geschoben, weiß bezogen und ordentlich gemacht, daneben ein schmaler Schrank. Am Fenster stand ein Holztisch mit zwei Stühlen. Es gab nichts Persönliches, keine Fotos oder Bücher, kein Radio, nur eine Zeichnung über dem Bett, mit

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