Brudermord
vermied die unterirdischen Stationen und musste sich so nicht mit einem Problem auseinandersetzen, das ihr immer wieder zu schaffen machte: ihre Platzangst. Seit vielen Jahren litt sie darunter, und trotz hartnäckiger Bemühungen war es ihr bisher nicht gelungen, sie zu überwinden. Im Gegenteil. Vor ein paar Monaten war es im Zusammenhang mit einem nervenaufreibenden Fall zu einer sehr unangenehmen Situation in der U-Bahn gekommen, und seitdem waren ihre Ängste wieder schlimmer geworden. An manchen Tagen genügte es bereits, nur an die steile, menschenüberfüllte Rolltreppe zu denken, die vom Marienplatz hinunter zum Bahnsteig führte, um ihre Handflächen schweißnass werden zu lassen. Nach der soeben beendeten Lektüre und in Erwartung des noch bevorstehenden Gesprächs mit ihrer Mutter verspürte sie wenig Lust, sich mit ihren eigenen »seelischen Störungen« auseinanderzusetzen. Lieber stellte sie den Mantelkragen auf und stopfte sich ihre widerspenstigen Locken unter die Schirmmütze, um sie nicht noch krauser werden zu lassen, als sie ohnehin schon waren. Krauses Haar, krause Gedanken, hatte ihr Vater immer gespöttelt und sie damit regelmäßig auf die Palme gebracht.
Clara beobachtete ihre Mutter gespannt. Thea Niklas hatte ihre halbmondförmige Lesebrille aufgesetzt und las Ruth Imhofens Gutachten aufmerksam. Ab und zu schüttelte sie leicht den Kopf. Sie saßen im Wintergarten der alten Villa, die Claras Großmutter gehört hatte.
Als das Haus nach deren Tod leer stand, hatten sich Claras Eltern entschieden, aufs Land zu ziehen. Thea Niklas hatte ihre Stelle in einer Münchner Klinik aufgegeben und sich als Ärztin und Psychotherapeutin in Starnberg niedergelassen. Das war in dem Jahr vor Claras Abitur gewesen, das sie schmollend in einem Internat im Schwarzwald zugebracht hatte, in das ihre Eltern sie wegen ihrer hundsmiserablen Leistungen kurzerhand gesteckt hatten. Ihre beiden Geschwister, sechs und acht Jahre älter als Clara, waren damals schon längst »aus dem Gröbsten« heraus gewesen, Gesine studierte in Hamburg Innenarchitektur, und Gregor, der Altphilologe, war bereits dabei, an seiner Universitätskarriere zu basteln und eine Familie zu gründen. Clara hatte das Abitur am Ende jenes Jahres tatsächlich geschafft, sehr zur Erleichterung ihrer Eltern, die sich zu der Entscheidung beglückwünschen durften, sie an einen Ort geschickt zu haben, an dem man nur die Wahl hatte, zu lernen oder an Langeweile zu sterben.
Clara liebte das alte Haus. In ihrer Kindheit und auch noch in Teenagerjahren hatte sie viel Zeit bei ihrer Großmutter verbracht. Ihre Eltern hatten bei ihrem Einzug nur wenig verändert, im Grunde hatten sie sich darauf beschränkt, alles Überflüssige, nachträglich Ein- oder Angebaute zu entfernen, und damit dem Haus zu einer neuen, schlichten Würde verholfen. Vom Wintergarten, in dem sie saßen, konnte man auf den See blicken, der jetzt schon fast im Dunkel des Herbstabends verschwunden war. Der Garten war wintertauglich: Die Gartenmöbel waren weggeräumt, die Rosenstöcke gestutzt und die empfindlichen Hortensien und Rhododendren vorsorglich zum Schutz vor den ersten Bodenfrösten, die hier früh kamen, in Jutesäcke gehüllt, sodass sie im Zwielicht wie kleine stumme Wächter aussahen, die die leeren Beete bewachten. Ihre Mutter hatte eine Duftkerze angezündet, und der Raum war erfüllt von einem würzigen, krautigen Geruch, der schwach an Wald und Holz erinnerte. Clara nahm einen Schluck von dem Rotwein, der auf dem Tisch stand, und zündete sich eine Zigarette an. Elise schlief unter einer ausladenden Palme, den Magen vollgefüllt mit Leckereien aus der örtlichen Metzgerei. Sie waren allein. Claras Vater war zu seinem Treffen gegangen, nachdem er seine Tochter mit einem knappen Kopfnicken begrüßt hatte, und ihre Schwester Gesine verbrachte den Abend bei einer alten Schulfreundin, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Clara war froh, allein mit ihrer Mutter über den Fall sprechen zu können. Auf die klugen Kommentare ihrer Schwester konnte sie gut verzichten.
Endlich sah ihre Mutter auf. Sie klappte ihre Brille zusammen und nahm ebenfalls einen Schluck Wein. »Wie lange war diese Frau auf Schloss Hoheneck, sagst du?«, fragte sie schließlich.
»Vierundzwanzig Jahre«, antwortete Clara und erschrak wie jedes Mal wieder aufs Neue über diese unermessliche Anzahl an Jahren. Fast ein halbes Leben.
»Und dann entlässt man sie so mir nichts, dir nichts
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