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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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in eine Welt hinaus, die sie überhaupt nicht mehr kennt?« Der Ton ihrer Mutter war skeptisch, und Clara meinte sofort, einen Vorwurf darin zu hören.
    »Ich weiß bisher auch nur, was in der Akte steht!«, gab sie schärfer zurück als beabsichtigt und biss sich auf die Lippen. Warum meinte sie immer, sich rechtfertigen zu müssen?
    Doch dann fuhr ihre Mutter fort: »Das ist mal wieder typisch für unsere dümmliche Justiz. Keine Ahnung, nicht den geringsten Bezug zu dem Thema, mit dem sie sich beschäftigen. Was für eine Ignoranz.«
    »Diese Ignoranz, wie du sagst, hat nicht die Justiz, sondern ein Arzt zu verantworten, wenn ich dich erinnern darf. Dr. Lerchenberg war der Meinung, sie solle entlassen werden«, gab Clara wütend zurück. »Und vielleicht wärst du jetzt so großzügig, dein Wissen mit einer dümmlichen Juristin zu teilen und mir zu sagen, was diese Diagnose bedeutet?« Sie begann es bereits zutiefst zu bereuen, dass sie ihre Mutter aufgesucht hatte. Es konnte nur in Streit ausarten.
    Thea Niklas lächelte nachsichtig. »Sei nicht albern, Clara. Dich habe ich doch nicht gemeint. Warum bist du nur immer so empfindlich?«
    Clara schluckte eine Erwiderung hinunter und goss sich stattdessen von dem Wein nach. Er war stark und sicher teuer. Ihre Eltern tranken nur teure Weine. Betont kühl fragte sie: »Also, was fehlte ihr nun deiner Meinung nach?«
    Ihre Mutter setzte ihr Fachgesicht auf, wie Clara es insgeheim nannte, und wiegte den Kopf hin und her. »Ich kann natürlich nicht sagen, ob diese Diagnose zutrifft, nach so langer Zeit und ohne die Patientin zu kennen …«
    »Ja, ja, schon klar«, nickte Clara ungeduldig.
    »Also, diese Gutachterin ist zu dem Ergebnis gekommen, dass deine Patientin unter einer Art von Schizophrenie leidet, deren Bezeichnung heute nicht mehr so gebräuchlich ist. Meistens bricht sie in der Pubertät aus, und sie weist als Besonderheit gerade nicht die typischen Symptome auf, die normalerweise die Diagnose von Schizophrenie rechtfertigen. Also zum Beispiel Wahnvorstellungen, Halluzinationen.«
    Clara runzelte die Stirn: »Aber wenn sie das alles nicht hatte, was hatte sie dann? Was genau fehlte ihr?«
    Ihre Mutter zuckte die Achseln. »Das geht hieraus nicht eindeutig hervor. Dazu müsste man die Notizen der Gutachterin sehen, ihre Beobachtungen, Gesprächsprotokolle …«
    »Aber dieses Gutachten war die Grundlage einer Entscheidung des Gerichts, die diese Frau für Jahrzehnte wegsperren ließ!«, rief Clara aufgebracht. »Das ist doch nicht möglich!«
    Ihre Mutter nickte ungerührt: »Ich sagte schon: Die Justiz ist mitunter dümmlich und ignorant.«
    Clara hob die Hände zur Kapitulation. »Gewonnen. Du meinst also, die Diagnose ist falsch?«
    Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht sagen. Es gibt diese Krankheit, die man Hebephrenie nennt, durchaus, obwohl man mit der Diagnose mittlerweile sehr viel zurückhaltender ist als damals. Früher nannte man diese Krankheit auch jugendliches Irresein .« Sie lächelte ironisch: »Darunter lassen sich eine Menge Verhaltensweisen junger Menschen zusammenfassen, wie du dir vielleicht vorstellen kannst. Ich denke da nur an dich, so im Alter von sechzehn, siebzehn …« Das Lächeln ihrer Mutter verstärkte sich.
    Clara verzog das Gesicht. »Na, da habe ich ja noch mal Glück gehabt, dass ich nur ins Internat gekommen bin.«
    Ihre Mutter wurde ernst. »Ich bin überzeugt, dass man in manchen Fällen durchaus von Glück oder Pech sprechen kann.«
    Clara starrte sie an: »Du meinst, es könnte möglich sein, dass damals jemand in die Psychiatrie eingewiesen wurde, dem womöglich gar nichts fehlte?« Sie schauderte bei der Vorstellung.
    Ihre Mutter sah sie an. »Nicht nur damals, würde ich sagen.«
    »So etwas ist möglich?« Clara schüttelte den Kopf. »Ich kann das gar nicht glauben.«
    Ihre Mutter seufzte. »Du kennst doch die Gesetze, die für die Einweisung in eine Klinik gelten. Und dann ist da jemand, dessen Verhalten nicht der Norm entspricht, dazu kommen Drogen, Alkohol, und wenn dann noch eine Straftat im Spiel ist …« Sie hob die Schultern. »Die Gesellschaft will sich sicher fühlen. Heute mehr denn je. Sicherheit um jeden Preis. Die Leute sehen nur die Tat und die mögliche Gefahr, nicht den Menschen, der dahintersteht. Wen interessiert schon, wie die Geschichte weitergeht? Und welcher Arzt übernimmt die Verantwortung dafür, wenn etwas schiefläuft?« Sie nahm eine Zigarette aus Claras

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