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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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nickte langsam. Natürlich. Damit bekäme das Ganze einen gewissen Sinn.
     
    Während der Zug einen leeren Bahnhof nach dem anderen passierte und sich langsam der Stadt näherte, drängte sich Ruths Gestalt in Claras Gedanken. Ihre langsamen Bewegungen, der angsterfüllte Blick. »Eine schillernde Figur«, hatte ihre Mutter sie genannt. Damals, Anfang der Achtziger. Eine junge Künstlerin, schön, extrovertiert, unangepasst. Sie verstand es, immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und passte dabei in keine der Schubladen, die man damals so parat hatte. Aber wahrscheinlich wäre die Öffentlichkeit gar nicht so auf sie aufmerksam geworden, wenn sie nicht die Schwester von Johannes Imhofen gewesen wäre. Die beiden stammten aus einer angesehenen, vermögenden Familie, ihr Großvater hatte vor dem Krieg die »Imhofen-Werke« gegründet, die jedoch in den Fünfzigern schließen mussten. 1974 waren die Eltern der beiden bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und der acht Jahre ältere Bruder Johannes sah sich plötzlich für seine vierzehnjährige Schwester verantwortlich. Es gelang ihm recht und schlecht, seine eigenen Pläne mit dieser neuen Aufgabe unter einen Hut zu bringen, bis Ruth volljährig war. Johannes Imhofen hatte immer eine Karriere als Politiker im Sinn gehabt, er war zielstrebig, klug und sehr ehrgeizig. Alles schien ganz prächtig für ihn zu laufen, wenn man von einigen ärgerlichen Eskapaden seiner Schwester absah. Er wurde in den Stadtrat gewählt, hatte einflussreiche Freunde bis hinauf in die höchsten Ebenen der Landespolitik, und die Zukunft erschien ihm rosig.
    »Doch dann ist diese schlimme Sache passiert, und alles schien vorbei.«
    Claras Mutter hatte geseufzt, und in dem Bemühen, eine genaue Erinnerung heraufzubeschwören, eine Weile schweigend aus dem Fenster gesehen. »Es war Anfang der Achtziger, soweit ich mich erinnere. Ruth war Teil einer Gruppe aus Künstlern, Studenten und Intellektuellen, die immer wieder für Schlagzeilen sorgte. Mal wegen Drogen, mal wegen Demonstrationen, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Sachbeschädigungen, Beleidigungen, all so etwas.«
    Die Münchner Presse hatte sich auf diese Szene eingeschossen, sie bildete sozusagen den Gegenpol zum konservativen politischen Umfeld um Johannes Imhofen, der 1980 mit zu den stärksten und lautesten Befürworten der Kanzlerkandidatur von Franz-Josef Strauß gehört hatte und jetzt kurz davor stand, den Sprung vom Stadtrat in die Landespolitik zu schaffen. Aber es sollte anders kommen: Eines Morgens wurde Ruth Imhofen festgenommen. Sie hatte ihren Liebhaber getötet.
    Damit hatte Claras Mutter ihre Schilderung beendet und Clara einen sorgenvollen Blick zugeworfen: »Und jetzt, vierundzwanzig Jahre später wurde Johannes Imhofen ebenso erschlagen wie damals Ruths Freund. Du kannst dir ja vorstellen, was man daraus für Schlüsse ziehen wird.«
    Clara hatte genickt. Stumm und fassungslos. Blitzartig ging ihr auf, was es für sie selbst bedeutete. »Sie werden dich kreuzigen!«, hatte ihre Mutter gesagt, und Clara konnte es sich nur allzu lebhaft vorstellen. Würde es etwas nützen, zu betonen, dass sie erst nach dem Tod Imhofens mit der Betreuung beauftragt worden war? Wahrscheinlich nicht. Würde ihr irgendjemand glauben, dass sie keine Verbindung zwischen damals und heute hergestellt, von dem alten Fall gar nichts gewusst hatte, weil sie damals, als die Sache durch die Presse ging, gerade mal achtzehn gewesen war und tief gekränkt in einem gottverlassenen Nest im Schwarzwald gesessen hatte? Wohl kaum. Es würde niemanden interessieren. Am wenigsten die Presse. Und Ralph Lerchenberg, der eigentlich Verantwortliche, war tot. Er hat sich davongestohlen, dachte Clara und spürte ihre ohnmächtige Wut auf diesen Arzt, den sie nicht einmal kennengelernt hatte und dem sie trotzdem den Schlamassel verdankte, in dem sie bald stecken würde. Sie schüttelte unwillig den Kopf, als der Zug endlich in den Bahnhof Hackerbrücke einfuhr, und stand auf. Das stimmt nicht ganz, korrigierte sie sich resigniert. Ich stecke längst schon bis zum Hals mittendrin.
     

CADAQUÉS
    Er schaffte es nicht mehr weiterzulesen. Zitternd stand er auf und schlurfte erneut zum Fenster. Noch immer war es Nacht. Doch nachdem er eine Weile blicklos hinausgestarrt hatte, meinte er, im Osten einen helleren Streifen zu erkennen. Langsam, kaum sichtbar, begann sich das Meer wieder vom Himmel zu trennen, entstanden Raum und Horizont anstelle des

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