Brudermord
ursprüngliche Verfahren von 1983 war darin zu Claras Enttäuschung nicht enthalten. Einzig eine Kopie des Gutachtens, auf dessen Grundlage Ruths damalige Einweisung in Burg Hoheneck erfolgt war. Weiter ein knappes Schreiben von Dr. Lerchenberg an das Vormundschaftsgericht, in dem er sich auf eine persönliche Unterredung mit der Richterin berief und die Entlassung Ruth Imhofens aus der Klinik befürwortete, sowie ein neues ärztliches Gutachten. Clara überflog rasch die Seiten, dann klappte sie den Ordner zu und meinte zu Willi: »Ich bin oben!«
Willi nickte.
Im Besprechungszimmer war es erheblich ruhiger als unten, und man blieb von Telefonanrufen verschont. Clara setzte sich an den leeren weißen Tisch und vertiefte sich in die wenigen Seiten der Akte. Als Erstes las sie das Gutachten von 1983, das eine Ärztin als gerichtliche Sachverständige erstellt hatte. Sie notierte sich das Aktenzeichen des alten Verfahrens und versuchte, die mit medizinischen Fachbegriffen gespickte Beurteilung zu verstehen, die dazu geführt hatte, dass Ruth Imhofen vierundzwanzig Jahre ihres Lebens in Schloss Hoheneck verbringen musste. Sie las von der »krankhaft veränderten Persönlichkeitsstruktur« Ruth Imhofens, den deutlichen Anzeichen »schizoaffektiver Störungen«, die die Fähigkeit zur angemessenen Prüfung der Realität einschränken und das Auftreten psychotischer Schübe begünstigen.
Sie las von dem exzessiven Drogen- und Alkoholmissbrauch der jungen Frau, die sich »in dem Wahn befände, eine Künstlerin zu sein« . Zum Beweis der Wahnvorstellungen wurde angeführt, dass die Patientin meine, überall Farben zu sehen, was zu sinnlosen und wirren Aussagen führe, wie beispielsweise gegenüber der Gutachterin: »Ich mag Sie nicht, Ihr Name hat keine Farbe« oder »Der Tag ist gut, er ist gelb«.
Abschließend sprach die Ärztin Ruth Imhofen jegliche Fähigkeit zum eigenverantwortlichen Handeln ab. Sie kam zu der Diagnose einer »hebephrenen Schizophrenie mit Minussymptomatik« im fortgeschrittenen Stadium. Als Therapiemöglichkeit empfahl sie einen längerfristigen Aufenthalt in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt und schloss mit dem Hinweis, dass Ruth Imhofen im derzeitigen Zustand eine erhebliche Gefährdung sowohl für sich selbst als auch für die Allgemeinheit darstellte.
Clara schüttelte verwirrt den Kopf, als sie zu Ende gelesen hatte. Sie konnte mit den Aussagen in dem Text wenig anfangen, und die Beispiele, die die Ärztin für das krankhafte Verhalten Ruth Imhofens angeführt hatte, kamen ihr nicht sehr verrückt vor, zumindest nicht in dem Maße, dass es die Schlussfolgerung gerechtfertigt hätte, die die Gutachterin getroffen hatte. Clara würde sich mit diesen Dingen noch ein wenig eingehender beschäftigen müssen. Fürs Erste jedoch hatte sie etwas ganz anderes stutzig gemacht, etwas, auf das sie bisher noch niemand hingewiesen hatte: Das psychiatrische Gutachten war nicht einfach nur die Beurteilung einer Patientin im Rahmen eines Betreuungsverfahrens gewesen, wie Clara angenommen hatte, sondern Bestandteil eines Strafverfahrens. Es hatte zur Beurteilung der Schuldfähigkeit von Ruth Imhofen gedient. Clara hob den Kopf und starrte nachdenklich in die Luft. Dieser Umstand warf ein völlig neues Licht auf die ganze Sache: Ruth Imhofen war vor vierundzwanzig Jahren offenbar einer Straftat verdächtig gewesen. Doch was hatte sie getan?
Clara klappte die Akte zu, lief die steile Treppe nach unten und bat Linda, gleich morgen früh zum Landgericht zu gehen und ihr die Strafakte Ruth Imhofen zu holen. Anschließend rief sie ihre Mutter an und fragte, ob es ihr recht sei, wenn sie heute Abend auf einen Sprung zu ihnen käme. Wenn ihr jemand im Dickicht medizinischer Fachausdrücke weiterhelfen konnte, ohne einen Begriff durch einen neuen, ebenso unverständlichen zu ersetzen, dann sie. Dafür nahm Clara auch in Kauf, dass ihre perfekte Schwester Gesine überraschenderweise schon heute eingetroffen war, wie ihre Mutter ihr fröhlich mitteilte.
»Was für ein schöner Zufall, nicht wahr? Euer Vater ist auf einer Versammlung der Rotarier, da können wir uns einen gemütlichen Abend zu dritt machen.«
Clara legte mit gemischten Gefühlen auf und packte die Akte Imhofen in ihre Tasche. Dann verabschiedete sie sich von Willi und Linda und machte sich mit Elise zu Fuß auf den Weg zur Hackerbrücke. Damit schlug sie zwei Fliegen mit einer Klappe. Elise kam zu einem langen Spaziergang, und sie selbst
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