Brudermord
Schachtel und zündete sie sich mit einer heftigen Handbewegung an.
»Du rauchst?«, fragte Clara ihre Mutter verwundert. So kannte sie ihre disziplinierte Mutter gar nicht. Sie erntete einen kurzen, spöttischen Blick.
»Natürlich rauche ich nicht. Rauchen ist ungesund und nicht sozialverträglich.« Sie nahm einen tiefen Zug, hustete und gab die Zigarette an Clara weiter. »Manchmal wünschte ich mir, ein bisschen weniger sozialverträglich zu sein.«
Clara staunte. Das klang höchst ungewöhnlich aus dem Mund von Thea Niklas. Sie war immer der Meinung gewesen, ihre Mutter missbillige ihre eigene, wenig sozialverträgliche Lebensweise, ihre Weigerung, Karriere zu machen, ihre impulsiven Sprünge in der Vergangenheit, die Tendenz, sich erst einmal zu widersetzen, und ihre »ungeordneten Verhältnisse«, wie es ihr Vater einmal genannt hatte. Sie wollte etwas darauf erwidern, ließ es dann aber sein und sagte stattdessen nachdenklich: »So gesehen war die Entscheidung von Dr. Lerchenberg, seine Patientin zu entlassen, ziemlich ungewöhnlich oder sogar mutig, nicht?«
Ihre Mutter nickte. »Könnte man so sagen. Es kommt natürlich auch darauf an, was diese Frau damals angestellt hat.«
Clara entschied sich in dieser Sekunde. Sie hatte ihrer Mutter den Namen ihrer Mandantin noch nicht gesagt, sie hatte ihr überhaupt keine Einzelheiten über den Fall erzählt, sondern sie nur gebeten, das Gutachten zu lesen. Zum einen wollte sie ihre Schweigepflicht nicht unnötig verletzen, zum anderen hoffte sie um eine möglichst unabhängige Meinung zu dem Gutachten. Doch vielleicht konnte ihre Mutter ihr noch mehr helfen.
»Sagt dir der Name Imhofen etwas?«, begann sie zögernd.
Ihre Mutter sah sie erstaunt an. »Imhofen? Aber natürlich. Sag bloß, das ist der Name dieser Frau?«
Clara nickte hoffnungsvoll. »Ja. Ruth Imhofen. Sie ist die Schwester von …«
»Ich weiß, wer sie ist!«, unterbrach ihre Mutter sie. Ihr Gesicht nahm einen besorgten, fast angstvollen Ausdruck an. »Ruth Imhofen! Du meine Güte! Hast du eine Ahnung, worauf du dich da eingelassen hast?«
»Nein!« Clara schüttelte den Kopf. »Was ist mit ihr?« Ihr war mit einem Mal unbehaglich zumute. »Was ist damals passiert?«
Ihre Mutter antwortete nicht. Sie wandte stattdessen ihren Blick zum Fenster hinaus in den dunklen Garten. »Ralph Lerchenberg war nicht mutig, er war …«, begann sie, in Gedanken versunken, dann unterbrach sie sich und schloss für einen Moment die Augen. Als sie Clara wieder ansah, bemerkte diese die tiefe Sorge in ihrem Blick und spürte, wie ihr kalt wurde.
Ihre Mutter sagte leise: »Sie werden dich kreuzigen, Clara.«
Auf dem Weg zurück nach München versuchte Clara vergeblich, nicht darüber nachzudenken, was sie von ihrer Mutter erfahren hatte. Sie und Elise saßen ganz allein in einem Abteil. Clara lehnte ihren Kopf an die dunkle, kalte Scheibe und zog die Beine zu sich heran. Sie war wütend. Egal, was ihr sonst noch durch den Kopf ging, in erster Linie war sie wütend: auf Dr. Lerchenberg und all die anderen, mit denen sie bisher gesprochen hatte. Alle wussten sie, worum es ging, und keiner hatte es für nötig befunden, sie aufzuklären. Oder waren sie davon ausgegangen, Clara wäre über die Zusammenhänge im Bilde? So wie anscheinend jeder, jeder außer Clara? Sie schüttelte den Kopf. Ralph Lerchenberg hatte ganz offensichtlich darauf gehofft, sie würde die Verbindung ihrer neuen Mandantin zu diesem alten Fall nicht sofort herstellen. Jedenfalls nicht bevor ihr die Betreuung übertragen worden war. Deshalb hatte er sie erst informiert, als der Termin beim Vormundschaftsgericht schon feststand, und deshalb wollte er sie erst nach dem Termin treffen und über die Einzelheiten aufklären. Er hatte Angst, sie würde sonst ablehnen. Was sie auch getan hätte. Clara ballte ihre Hände zu Fäusten, sie waren eiskalt. Ihre Fingernägel gruben sich in die weichen Handflächen, und der Schmerz tat ihr gut. Am liebsten hätte sie gegen die Scheibe geschlagen, irgendetwas zertrümmert. Ralph Lerchenberg hatte sie benutzt. Er hatte auf ihre Hilfsbereitschaft gebaut, hatte sich mit dem Hinweis auf die Bekanntschaft mit ihrer Mutter ihr Vertrauen erschlichen. Wer weiß, was für ein Märchen er ihr erzählt hätte, wenn sie sich getroffen hätten. Clara ließ ihre Hände sinken. Womöglich hatte er gar nicht ernstlich vorgehabt, sich mit ihr zu treffen. Was hatte Pater Roman gesagt? Ralph wollte Ruth schützen. Clara
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