Brudermord
sei krank, hieß es in dem Urteil, ihre Psyche unheilbar zerrüttet, und so wurde sie, statt im Gefängnis für ihre Taten zu büßen, in eine Nervenklinik eingewiesen. Ein Schlag ins Gesicht der verzweifelten Eltern. »Unser Sohn ist tot, und diese Person bekommt Mal- und Selbstfindungskurse auf Kosten der Steuerzahler«, meinte der Vater des Opfers damals verbittert gegenüber unserem Blatt.
Mehr als zwei Jahrzehnte sind seither vergangen, und die Malkurse scheinen nicht geholfen zu haben. Vor wenigen Wochen wurde Ruth Imhofen, angeblich geheilt, aus der Klinik Schloss Hoheneck am Starnberger See entlassen. Ihr Bruder, Johannes Imhofen, der sich nach dem Tod ihrer Eltern aufopferungsvoll um seine damals noch minderjährige Schwester gekümmert hatte, musste tief in die Tasche greifen, um ihr die Behandlung in der exklusiven Privatklinik zu ermöglichen. Gedankt wurde es ihm nicht: Am Sonntag fand ihn seine Frau tot in der Tiefgarage seiner Villa (wir berichteten). Der Firmengründer der Imac AG und ehemalige Stadtrat war brutal erschlagen worden. Für Hilde R. stellt sich die Frage nach dem Täter nicht. Sie schüttelt nur fassungslos den Kopf und fragt leise: »Warum schützt uns niemand vor dieser Frau?«
Clara knirschte mit den Zähnen. Neben dem groß aufgemachten Artikel stand noch ein Kommentar des Redakteurs, in dem erwartungsgemäß in anklagendem Ton die üblichen Fragen gestellt wurden: Wer hat versagt? Wie konnte es dazu kommen? Wo waren die Gerichte, wo die Polizei? Was ist los in diesem Land? Clara las nicht zu Ende. Sie betrachtete stattdessen das Foto, das Ruth Imhofen vor vierundzwanzig Jahren zeigte. Hätte Clara nicht gewusst, dass es sich um dieselbe Person handelte, die sie gestern besucht hatte, sie hätte sie nicht wiedererkannt. Eine aparte junge Frau mit glattem, dunklem Haar und ernstem Gesichtsausdruck hielt den Blick direkt in die Kamera gerichtet, sodass es wirkte, als schauten ihre dunklen Augen unmittelbar den Betrachter an. Ein seltsamer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht: Spott? Arroganz? Clara konnte es nicht sagen, spürte jedoch etwas von der Ausstrahlung, die von Ruth Imhofen ausgegangen sein musste und die sicher nicht unerheblich zu ihrem Ruf beigetragen hatte. Etwas Beunruhigendes ging von diesem Gesicht aus, eine Intensität, die man sogar über dieses körnige, leicht verwaschene Zeitungsfoto spüren konnte. Clara versuchte, sich die junge Frau vorzustellen. Es gelang ihr nicht. Immer wieder schob sich das Bild der verschreckten graugesichtigen Frau dazwischen, die Ruth Imhofen heute war. Unvermittelt fiel ihr stattdessen Mäggi ein, eine verhasste Klassenkameradin, die eigentlich Marianne Schimpf hieß, aber von allen Mäggi genannt werden wollte, Mäggi mit »ä«. Mit ihr war Clara die ganzen Schuljahre bis zur ihrer Zwangsverschickung in den Schwarzwald in tiefer Feindschaft verbunden gewesen. Einmal hatte Mäggi Clara, deren störrische Locken schon damals sprichwörtlich waren, bei einer Weihnachtsfeier eine Packung billiger, bunter Lockenwickler geschenkt. Die ganze Klasse hatte gelacht, als Clara das Päckchen ausgepackt hatte. Diese Boshaftigkeit hatte Clara ihr nie verziehen und sich im Frühjahr darauf gerächt, indem sie ihr zum Geburtstag eine Flasche Maggi aufs Pult stellte, hübsch verpackt und mit zwei feinsäuberlich gemalten Pünktchen auf dem A. Clara lächelte bei der Erinnerung und versuchte, gedanklich in dieser Zeit zu bleiben. Ronald Reagan fiel ihr ein und Wackersdorf. Ostermärsche, Pershing-II-Raketen, Geier Sturzflug. Am meisten jedoch war ihr die Musik dieser Zeit in Erinnerung geblieben. Nena, Abba, Pink Floyd. Und Frank Zappa. Unwillkürlich musste sie an das Poster in Pater Romans Büro denken, und während sie in Gedanken versunken mit der Zeitung in der Hand zu ihrem Schreibtisch hinaufging, sang sie leise vor sich hin: » Hey there people, I’m Bobby Brown, they say I’m the cutest boy in town, …«
Das Telefon klingelte, und Clara unterbrach ihren Gesang, weil Linda keine Anstalten machte, den Hörer abzunehmen.
»Was ist?«, fragte Clara erstaunt, »Wollen Sie nicht rangehen?«
Linda starrte sie wie hypnotisiert an. »Äh, nein«, sagte sie schließlich und ließ das Telefon ungerührt weiterklingeln.
Clara hob die Augenbrauen. »Ist alles in Ordnung?«
Linda nickte, plötzlich verunsichert und deutete auf das Display ihres Telefons: »Das ist ein Journalist, der hat heute schon ein paarmal angerufen … und einige andere auch.
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