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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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schwarzen Loches, das diese Nacht gewesen war. Doch die Tatsache, dass ein neuer Morgen heraufzog, brachte ihm nicht die Erleichterung, die er sich erhofft hatte. Die Zeit verging, und die Frau wartete auf ihn. Würde sie seine Entscheidung akzeptieren, wenn sie nicht so ausfiel, wie sie es sich offenbar erhoffte? Und was hinderte ihn daran, seine Sachen zu packen und zu verschwinden? Er könnte einfach weiter in den Süden gehen, nach Sevilla, Granada. Oder hinauf nach Bilbao. Er murmelte die Namen der Städte langsam vor sich hin. Sie klangen verlockend, schmeckten vage nach Freiheit. Man würde ihn nicht noch einmal finden. Er drehte sich vom Fenster weg. Sein Blick fiel auf das Bündel Briefe auf dem Boden, und er schüttelte den Kopf. Er konnte nicht weglaufen. Nicht, ehe er sie alle gelesen hatte. Er packte das Bündel, schob es wieder in den braunen Umschlag zurück und steckte es sich unter sein schmuddeliges Hemd. Dann ging er hinunter, lief durch das noch schlafende Dorf, die enge Gasse hinunter zum Hafen und weiter am Pier entlang bis zum Strand. Dort blieb er stehen, schwer atmend wie nach einem Marathonlauf, und starrte in den leeren Himmel. Langsam ging er in die Knie.
    Irgendwann, als es längst hell geworden war und er wieder zu sich kam, im kalten Sand liegend, zitternd und steifgefroren vor Kälte, zog er das Bündel Briefe erneut aus seinem Hemd und suchte nach dem nächsten Brief. In dem Umschlag steckte ein einzelnes dünnes Blatt, mit fahrigen, schnellen Buchstaben bedeckt, die wie aufgestreut aussahen, wackelig, ungleichmäßig schwankend, ohne erkennbare Zeilen.
     
    Mein Geliebter, 
    sie ist da! Ich dachte, ich würde ihr nie wieder begegnen. Schon wieder etwas, worin ich mich getäuscht habe. Aber ich darf mich täuschen, denn ich bin krank. Niemand muss mir glauben, niemand muss meine Bitten erhören. Ich spreche im Wahn, man muss mich vor mir selbst schützen. Als ob ein gefährliches Tier in mir wohnte, ein Raubtier, das mich an der Kehle packt, wenn ich nicht aufpasse. Ich war im Flur, heute Nachmittag, als sie plötzlich vor mir stand. Ich konnte nichts tun, habe sie nur angesehen, und meine Beine wurden schwach. Da hat mein wildes Tier sie angesprungen. Hat sie gepackt und geschüttelt, ihr Kopf ist hin und her gependelt wie der einer Puppe, und sie hat geschrien. Es war gut, sie schreien zu hören, schrill, voller Angst, und ihre Brille ist ihr von der Nase gefallen, ich bin draufgetreten und musste lachen. Als die anderen kamen, hatte ich sie längst schon wieder losgelassen. »Ich bin verrückt«, habe ich zu ihr gesagt. »Total verrückt. Das wissen Sie doch!« Es hat ihr Angst gemacht. Sie hat mich angeschaut mit diesen Augen in der Farbe einer schmutzigen Wasserpfütze, diesen hässlichen Augen, die ich ihr gerne ausgekratzt hätte, und ich habe alles darin gesehen: Ihre Angst und ihre Schuld. Ich hätte sie umbringen können, bevor auch nur einer der anderen etwas gemerkt hätte. Vielleicht tue ich es noch. Ich kann nicht mehr weiterschreiben, sie haben mir eine Spritze gegeben …

MÜNCHEN
    Als Clara am nächsten Morgen in die Kanzlei kam, sah sie bereits an dem Gesichtsausdruck, mit dem Linda sie empfing, dass die Bombe geplatzt war. Auf ihrem Schreibtisch lag eine Zeitung, und Clara stachen schon aus der Entfernung die Lettern der Überschrift in die Augen. Wortlos nahm Clara die Zeitung vom Schreibtisch und las mit zunehmendem Abscheu den Artikel:
     
    Erschlägt irre Mörderin eigenen Bruder?
     
    Vor vierundzwanzig Jahren starb Udo R. Ein junger Mann mit sanften Locken und den Kopf voller Ideale. Er träumte von einer Welt des Friedens, demonstrierte gegen Waffen und Kriege und wurde selbst Opfer einer grausamen und sinnlosen Gewalttat. In der Nacht zum 23. Januar 1983 zerstörte ein brutaler Schlag sein junges Leben für immer. Die Täterin war eine Frau. Eine Frau, die man sich nicht gerade als Umgang für seinen einzigen Sohn wünscht: Ruth Imhofen. Dieser Name stand damals für Krawall, Drogenexzesse und gnadenlose Selbstdarstellung. Hilde R., der Mutter des Opfers, kommen heute noch die Tränen, wenn sie über ihren einzigen Sohn spricht. »Ich hatte ihn immer gewarnt: Diese Frau ist nichts für dich. Aber er wollte nicht hören«, flüstert die grauhaarige Frau mit tränenerstickter Stimme und knetet ein Taschentuch in ihren abgearbeiteten Händen. Das Gericht kam damals zu einem Ergebnis, das zwar kaum jemanden überraschte, jedoch wenig befriedigte: Ruth Imhofen

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