Brudermord
Möchten Sie, dass ich Sie verbinde?«
Clara schüttelte den Kopf. »Bitte nicht. Ich bin nicht da!« Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und starrte wieder auf das Bild Ruth Imhofens. Wenn Ruth damals tatsächlich ihren Liebhaber erschlagen hatte - und daran schien offenbar kein Zweifel zu bestehen -, dann konnte sie trotz ihrer Abneigung gegenüber der Sensationspresse leider nur zu gut nachvollziehen, dass sich jetzt, nachdem Johannes Imhofen ebenfalls erschlagen worden war, deren Augenmerk sofort auf die Schwester richtete. Aber war Ruth Imhofen tatsächlich eine Mörderin? Clara konnte es sich nicht vorstellen. Aber was bedeutete das schon? Wann konnte man sich so etwas schon von einem Menschen vorstellen? Sie zeichnete unschlüssig kleine Kringel und Zacken auf ihren leeren Notizblock, während sie weiter auf das Foto starrte. Was sollte sie tun? Sie war die Betreuerin von Ruth Imhofen, ob es ihr passte oder nicht, damit war sie verantwortlich für ihren Aufenthalt, musste entscheiden, ob sie im Haus Maximilian bleiben oder wieder zurück nach Schloss Hoheneck kommen sollte. Letzteres stellte in jedem Fall die sicherere Variante dar. Doch Clara ging Ruths Gesicht nicht aus dem Sinn, ihre offenkundige Angst, wieder eingewiesen zu werden. Und Ralph Lerchenberg schien von ihrer Unschuld überzeugt gewesen zu sein. Sie ließ den Stift sinken. Sie wusste doch gar nicht, was Lerchenberg geglaubt hatte. Vielleicht hatte er erkannt, dass er sich in Ruth getäuscht hatte, und war deshalb gegen den Baum gefahren? Um sich seiner Verantwortung nicht stellen zu müssen? Clara wurde kalt. Was dann? Dann war Ruth Imhofen tatsächlich eine kranke und unberechenbare Frau, wie Selmany es gesagt hatte. Eine Frau, die bereits zwei Männer erschlagen hatte. Clara rieb sich mit beiden Händen über ihr Gesicht und fluchte laut und vernehmlich: »Was für eine verdammte Scheiße habe ich mir da bloß eingebrockt!« Dann stand sie auf und ging wieder hinunter zu Linda. »Ich muss noch mal zu Frau Imhofen«, sagte sie seufzend. »Geben Sie bitte keine Auskünfte über den Fall, wirklich unter keinen Umständen.«
Linda sah sie tief beleidigt an. »Natürlich nicht!«
Clara machte sich mit Elise, die sie begleiten durfte, auf den kurzen Weg zum Haus Maximilian. Elmar, der ihr auch dieses Mal öffnete, machte einen verstörten Eindruck. Er war käsebleich, und an Hals und Wangen leuchteten kreisrunde rote Flecken. »Ich muss sofort mit Pater Roman sprechen«, sagte Clara und musterte den jungen Mann zweifelnd. Er schien nicht sehr krisenfest zu sein.
»Er ist nicht da«, gab Elmar zurück und biss sich mit seinen schiefen Zähnen auf die Unterlippe.
»Na prächtig«, entfuhr es Clara. »Hören Sie, Elmar, wenn die Polizei kommt …«
»Die war schon da«, unterbrach sie Elmar rasch und riss seine Augen angstvoll auf. »Sie wollten Ruth sprechen, aber Pater Roman hat es ihnen nicht erlaubt, er hat gesagt, sie müssten erst mit Ihnen sprechen. Deshalb kommen sie heute Nachmittag um drei wieder. Ich habe gerade in Ihrer Kanzlei angerufen, um Bescheid zu geben, aber da sagte man mir, Sie kämen ohnehin vorbei.«
Clara nickte. »Und wo ist Pater Roman jetzt?«, fragte sie.
Elmar hob entschuldigend die Hände. »Er hat einen dringenden Termin beim Arbeitsamt wegen eines unserer Klienten, und er hat gesagt, ich solle so lange die Stellung halten.« Elmar ließ seine Arme sinken und sah nicht sehr glücklich über diese Aufgabe aus.
Clara wandte sich zur Treppe. »Wie geht es Ruth?«, fragte sie, und als keine Antwort kam, drehte sie sich erstaunt zu Elmar um.
Er stand noch am gleichen Fleck, in sich zusammengesunken wie ein Häuflein Elend.
»Was ist mit ihr?«, fragte Clara alarmiert.
Elmar schüttelte hilflos den Kopf. »Nichts. Glaube ich wenigstens. Sie ist nur … also, sie geht am Vormittag immer gern spazieren … Pater Roman hat zwar gesagt, ich sollte sie heute nicht gehen lassen, und ich habe auch aufgepasst … aber als ich zu ihr hochgesehen habe, war sie nicht mehr da.«
Clara musste sich zügeln, um nicht laut loszuschreien. »Soll das heißen, Ruth Imhofen ist weg?«, sagte sie mit gepresster Stimme und spürte, wie ihr heiß wurde.
Elmar sah sie bittend an: »Nicht weg, nur spazieren.«
»Nur spazieren, so so«, wiederholte Clara wütend. Sie riss die Zeitung aus ihrer Tasche und hielt sie Elmar vor die Nase. »Was«, begann sie, und ihre Stimme wurde lauter. »Was glauben Sie, passiert, wenn irgend so ein
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