Brudermord
die Frage nicht gehört hätte.
Clara sprach trotzdem weiter. »Es geht um Ihren Bruder Johannes. Hat Pater Roman mit Ihnen darüber gesprochen?« Sie zögerte. Was wusste Ruth Imhofen von den Ermittlungen der Polizei? Von dem Zeitungsartikel?
Doch Ruth ging überhaupt nicht auf Claras Frage ein. Schweigend drehte sie die Tasse zwischen ihren Fingern hin und her, fast so, als ob sie Clara nicht gehört hätte. Ihre Hände waren klein, fast wie Kinderhände. »Bringen Sie mich wieder zurück?«, fragte sie schließlich.
Clara unterdrückte einen Seufzer. Das Gespräch kam ihr so vor, als befände sie sich in einer Wiederholungsschleife, nur dass sie gestern, als sie hier am gleichen Platz gesessen hatte, noch nicht gewusst hatte, dass man ihre Mandantin des Mordes verdächtigte.
»Warum fürchten Sie sich so vor Schloss Hoheneck?«, fragte sie schließlich. »Vielleicht kann man Ihnen dort helfen …« Weiter kam sie nicht.
Mit einer blitzschnellen Bewegung, die ihrem sonstigen Tempo völlig widersprach, hatte Ruth ihre Tasse auf den Tisch geknallt und war aufgesprungen. Ihr Stuhl fiel mit einem lauten Krach nach hinten. »Nein!«, sagte sie laut und vernehmlich.
Clara sah sie an. Ihr Blick war dunkel, wild entschlossen, und Clara meinte, in ihm ein Stück der alten Ruth von dem Zeitungsfoto wiederzuerkennen.
Sie hob beschwichtigend den Arm: »Bitte, setzen Sie sich wieder. Ich werde natürlich nichts gegen Ihren Willen unternehmen!« Sie hoffte inständig, dass sie sich am Ende nicht selbst Lügen strafen müsste.
Ruth sah sie misstrauisch an, hob dann aber nach einigen reglosen Sekunden den Stuhl wieder auf und setzte sich langsam. Um ihre Teetasse hatte sich eine Pfütze gebildet.
»Möchten Sie mit mir über die Klinik sprechen?«, fragte Clara zögernd und fühlte sich dabei wie eine salbungsvolle Fernsehpsychologin. Zu ihrer Überraschung reagierte Ruth auf ihre Frage.
Sie sah Clara einen Augenblick lang prüfend an, als frage sie sich, ob ihr Interesse echt war, dann sagte sie langsam: »Sie haben keine Ahnung, oder?«
Clara lächelte bitter. Diese Frage hatte sie in den letzten Tagen schon ein wenig zu oft gehört, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Keinen blassen Schimmer«, sagte sie ehrlich.
Ruth ließ Clara nicht aus den Augen. »Es gibt dort keine Farben«, begann sie, zögernd, leise, als ob sie die Empfindungen erst suchen müsse, als ob sie erst in dem Moment, in dem sie zu Worten wurden, tatsächlich Gestalt annähmen. »Keine Farben. Es gibt nur Weiß. Weiße Wände, weiße Gesichter. Das Weiß dringt in deinen Kopf, breitet sich aus und lässt alles verblassen. Alles, was du bist, verschwindet langsam. Du kannst dich nicht mehr finden, in all dem Weiß, du spürst dich nicht mehr.« Sie verstummte plötzlich, als habe die Erinnerung ihr die Sprache verschlagen.
Clara sah sie an, und ihr wurde kalt: In Ruths Blick lag ein solches Grauen, dass Clara sie am liebsten geschüttelt hätte, um die Bilder, die Ruth offenbar vor Augen hatte, zu vertreiben. Sie räusperte sich, ihre Kehle war trocken. »Frau Imhofen«, brachte sie schließlich heraus, und ihre Stimme klang in ihren Ohren kratzig, unbeholfen. »Die nächste Zeit wird nicht leicht für Sie werden.« Sie räusperte sich erneut und sprach dann schnell weiter, bevor sie es sich noch anders überlegen konnte. »Ich verspreche Ihnen, ich werde alles tun, was ich kann, damit Sie hierbleiben können.«
Sie schluckte und spürte die Furcht, die in ihr hochkroch. Und was, fragte sie sich, wenn du dich irrst? Wenn sie noch immer krank ist? Unberechenbar? Und andere Stimmen schlossen sich der Frage an, Zweifelsstimmen, giftig und höhnisch: Du hast doch keine Ahnung, was du da versprichst! Kennst die Frau nicht einmal! Was glaubst du, wer du bist? Hältst dich wohl für klüger als die Ärzte und das Gericht zusammen?
Abrupt stand Clara auf. Sie wollte dieses Gift nicht hören. Sie hatte sich entschieden, dieser Frau ein Versprechen zu geben. Weshalb, konnte sie nicht genau sagen, aber sie wusste, sie würde alles tun, um dieses Versprechen zu halten. Doch ihr war auch das Risiko bewusst, das sie damit einging. Sie reichte Ruth Imhofen die Hand und sagte: »Ich bringe Ihnen Ihre Malsachen heute Nachmittag. Versprochen.« Elise, die die ganze Zeit ganz dicht und wachsam neben Clara gesessen hatte, fast als spüre sie eine Gefahr, sprang auf. Hechelnd stand sie jetzt neben ihr und musterte Ruth Imhofen, die zögernd Claras Hand
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