Brudermord
ergriff. Clara atmete auf. Irgendwie schien ihr dieser schwache Händedruck ein Fortschritt zu sein. Vielleicht wollte sie aber auch nur, dass es so war. Von Ruth Imhofen kam kein Wort mehr. Keine Silbe über den Vorfall mit den Journalisten, kein Wort über ihren Bruder oder den Polizeitermin am Nachmittag, nichts. Sie drückte Claras Hand wie die einer vollkommen Fremden, höflich, aber unbeteiligt, automatisch. Clara lächelte trotzdem. »Bis später«, sagte sie, und sie hörte ihre Stimme ein wenig zittern.
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete sie ein paarmal tief ein. Am liebsten wäre es ihr gewesen, nie wieder hierherkommen zu müssen. Etwas an Ruth Imhofen flößte ihr Unbehagen ein, aber sie konnte nicht sagen, ob es wirklich an Ruth lag oder vielmehr an ihrer eigenen Angst davor, diese Frau könne am Ende tatsächlich das sein, was die Zeitungen behauptet hatten: eine irre Doppelmörderin. Sie runzelte die Stirn, während sie den stillen Gang entlangging. »Du hast dich von diesem dummen Zeitungsartikel beeinflussen lassen«, schimpfte sie mit sich und schritt ein wenig schneller aus. Zwei Dinge schienen ihr plötzlich überlebensnotwendig: frische Luft und eine Zigarette.
Unten am Treppenabsatz erwartete sie Pater Roman. Er schien gerade zurückgekommen zu sein und war noch im Mantel. Hinter seinem breiten Rücken sah Clara die schmale Gestalt Elmars. Er hatte seinen Chef offenbar gerade über Ruths Zusammenstoß mit den Journalisten informiert. Sein Gesicht war noch immer blass, und mit seinen schiefen Zähnen wirkte er wie ein verschrecktes Kaninchen.
Clara begrüßte Pater Roman kühl. Mit einer gewissen Genugtuung stellte sie fest, dass er seine Souveränität weitgehend eingebüßt hatte. Sein Gesicht wirkte noch zerknautschter als gestern, und tiefe Schatten lagen unter seinen wimpernlosen Augen. Er bat sie zu sich ins Büro und schloss die Tür. Clara setzte sich auf das Sofa und wartete.
Der Pater ließ sich Zeit. Sorgfältig hängte er zuerst seinen Mantel an einen Haken hinter der Tür, dann blieb er mitten im Raum stehen und fuhr sich ein paarmal über seinen kahlen Schädel, bevor er sich schließlich setzte. »Böse Geschichte«, begann er zögernd.
Clara nickte. »Kann man so sagen«, erwiderte sie trocken. Dann fuhr sie ihn an: »Warum haben Sie mir gestern nichts über Ruth gesagt? Über die Geschichte von damals? Wenn ich gestern schon Bescheid gewusst hätte, hätte ich vielleicht verhindern können, dass sie diesen Hyänen ins offene Messer läuft.« Bei dem Gedanken an die verängstigte Frau inmitten der sensationsgierigen Menschen kochte ihr Zorn wieder hoch.
Pater Roman musterte sie müde. »Wie hätten Sie das verhindern wollen? Dazu müsste man Frau Imhofen einsperren. Und eingesperrt ist sie zeit ihres Lebens schon genug gewesen.«
»Und was macht Sie so sicher, dass sie dies nicht zu Recht war?«, fragte Clara provokant.
Pater Roman hob das Kinn. »Sie werden Ruth also wieder nach Hoheneck bringen?« Der Ton seiner Gegenfrage verriet bereits die Antwort, die er erwartete.
Clara knurrte gereizt. »Warum antwortet mir eigentlich nie jemand auf meine Fragen? Nein. Ich werde sie nicht wieder einweisen lassen. Jedenfalls vorläufig nicht. Aber mich würde interessieren, was Sie und Dr. Lerchenberg wissen, was ich nicht weiß. Warum glauben Sie, dass Ruth Imhofen nicht in eine Klinik gehört, wenn es doch jahrelang offenbar feststand, dass sie psychisch krank ist?«
»Immerhin ist sie aufgrund eines Gerichtsbeschlusses entlassen worden«, lautete Pater Romans ausweichende Antwort.
»Aber erst auf Betreiben Dr. Lerchenbergs! Was machte ihn so sicher, dass er die Diagnosen der anderen Ärzte in den vergangenen Jahren in Zweifel ziehen konnte? Immerhin hat Ruth Imhofen einen Menschen getötet.«
Pater Roman hob abwehrend die Hände. »Das war Ralphs Angelegenheit. Ich sagte doch schon, er war sehr verschwiegen …«
»Hören Sie doch mit diesem Quatsch auf!«, fauchte Clara. »Das glaubt Ihnen kein Mensch.«
Der Pater schüttelte eigensinnig den Kopf. »Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß, Frau Anwältin.«
Clara stand auf. »Dann verschwende ich hier meine Zeit«, sagte sie und griff nach ihrer Tasche. Sie warf Pater Roman einen kühlen Blick zu: »Könnten Sie - natürlich nur, wenn es den Prinzipien Ihres offenen Hauses nicht zuwiderläuft - dafür sorgen, dass Frau Imhofen heute Nachmittag nicht spazieren geht?« Pater Roman wollte etwas
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