Brudermord
zurück.
Clara hoffte, dieser schwache Glanz würde durch das, was ihr jetzt bevorstand, nicht wieder zerstört werden. »Die Polizei kommt gleich«, begann sie zögernd. Ruth Imhofen nickte. Ihr Gesicht verriet keine Regung.
»Sie wissen, dass Ihr Bruder Johannes tot ist?«, fragte Clara vorsichtig.
Ruth nickte wieder. »Er ist tot«, wiederholte sie und das Leuchten in ihren Augen verschwand.
»Wissen Sie, was genau mit ihm passiert ist?«, fragte Clara weiter.
Ruth gab keine Antwort.
Clara runzelte die Stirn. »Hat man Ihnen denn nichts darüber erzählt?«
Als Ruth noch immer schwieg, seufzte Clara, dann sagte sie vorsichtig: »Ihr Bruder Johannes wurde ermordet, Frau Imhofen. Deshalb kommt die Polizei hierher. Sie möchte Sie dazu befragen…« Sie unterbrach sich, als sie Ruths Gesicht sah. Es war kreideweiß geworden, und ihr Mund öffnete und schloss sich lautlos wie bei einem sterbenden Fisch, der längst den Kampf aufgegeben hat und nur noch reflexartig nach Luft schnappt.
»Frau Imhofen …«, begann Clara erschrocken, doch dann verstummte sie verstört, denn Ruth hatte unvermittelt zu sprechen begonnen. Es war nur ein leises Flüstern, eine monotone Aneinanderreihung von Wörtern, die an niemanden gerichtet waren. Wie in Hypnose hielt Ruth ihre dunklen Augen ins Nichts gerichtet, und ihre blutleeren Lippen bewegten sich dabei unaufhörlich. Clara lief es eiskalt den Rücken hinunter. Sie versuchte, die einzelnen Worte zu verstehen, doch es gelang ihr nicht.
Aus irgendeinem Grund wagte sie es nicht, Ruth zu unterbrechen. Und so blieb sie stumm sitzen, die Augen auf ihre Mandantin gerichtet, die sich in einer anderen Welt zu befinden schien, und versuchte vergeblich, ihrer eigenen Angst, die sie bei dem Anblick erfasst hatte, Herr zu werden.
Ein Klopfen an der Tür erlöste sie. Als Pater Anselm seinen rosaroten Kopf hereinstreckte, verstummte Ruth augenblicklich, und Clara fühlte sich, als wäre sie gerade aus einem Albtraum erwacht. »Die Polizei ist jetzt da«, sagte der junge Mann nervös, und sein Blick flog aufgeschreckt zwischen den beiden Frauen hin und her. Er schien die Spannung im Raum zu spüren, konnte sie jedoch nicht zuordnen.
Seufzend stand Clara auf. Sie warf einen Blick auf die bewegungslose Frau im Stuhl. »Frau Imhofen, vielleicht wäre es besser, ich spreche alleine mit den Beamten …«, begann sie, doch Ruth schüttelte stumm den Kopf und erhob sich schwerfällig aus ihrem Stuhl.
In Pater Romans Büro erwarteten sie zwei Kriminalbeamte, die sich als Kommissar Gruber und Kommissarin Sommer vorstellten. Herr Gruber war um die fünfzig, dunkel, klein und drahtig. Er warf Clara einen gelangweilten Blick zu, von dem sie sich jedoch nicht täuschen ließ. Dieser Mann konnte Ruth gefährlich werden, das spürte sie sofort. Kommissarin Sommer war mindestens fünfzehn Jahre jünger, blond, mit burschikosem Kurzhaarschnitt und blassblauen Augen. Die beiden musterten Ruth interessiert, bevor Frau Sommer das Wort ergriff. Sie fragte nach den üblichen Dingen: Wann Ruth Imhofen die Klinik verlassen hatte und wann sie ihren Bruder zuletzt gesehen hatte. Ruth antwortete leise, furchtsam, aber relativ gefasst. Johannes habe sie ab und zu in der Klinik besucht, sie könne sich nicht mehr erinnern, wann zuletzt, vielleicht vor zwei, drei Monaten?
Kommissar Gruber hob bei dieser Antwort interessiert den Kopf: »Hat Ihr Bruder Sie denn nicht abgeholt, als Sie entlassen wurden?«, fragte er und war mit einem Male sehr aufmerksam.
»Nein …« Ruth war durch die Frage verunsichert, sie nestelte nervös mit den Fingern an der Kordel ihres Trainingsanzugs.
»Das ist doch seltsam«, fuhr der Beamte fort. »Hat er sich denn nicht gefreut, dass Sie wieder gesund waren? Wollte er Sie nicht nach Hause holen?«
Clara gefiel der Ton ganz und gar nicht, und sie spürte, wie Ruth neben ihr zunehmend unruhig wurde. Doch sie hatte keinen Grund einzugreifen, und im Übrigen interessierte sie die Antwort auf diese Frage ebenfalls.
Aber Ruth gab keine Antwort. Sie senkte den Kopf und schwieg.
Jetzt war Kommissarin Sommer wieder an der Reihe. Sie warf einen Blick auf ihre Notizen: »Ihr Bruder hat Sie nicht vor ein paar Monaten das letzte Mal besucht, es war vor fast genau drei Jahren. Und er hat Sie in der ganzen Zeit, in der Sie auf Hoheneck waren, insgesamt nur zehn Mal besucht, also im Schnitt weniger als einmal alle zwei Jahre!«
Ruth reagierte nicht. Sie hielt den Kopf gesenkt und
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