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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Adresse gleich um die Ecke.
    Als Clara um halb drei den Klingelknopf am Haus Maximilian drückte, war ihre Aufregung über die Entdeckung, dass Pater Roman dieses neue Gutachten verfasst hatte, einer gewissen Ratlosigkeit gewichen. Pater Roman hatte sie massiv angelogen. Er hatte so getan, als ob er Ruth Imhofen überhaupt nicht kennen würde. Warum? Clara konnte die Bestürzung durchaus nachvollziehen, die ihn und auch Dr. Lerchenberg erfasst haben musste, als sie von dem Mord an Johannes Imhofen so kurz nach Ruths Entlassung erfahren hatten. Aber Pater Roman konnte doch nicht ernsthaft geglaubt haben, durch seine Lüge ihr gegenüber würde seine Beteiligung an der Sache unentdeckt bleiben. Warum also hatte er gelogen?
    Den jungen Mann, der ihr öffnete, hatte Clara noch nie gesehen. Er war groß, dünn und rothaarig. »Wo ist Elmar?«, fragte sie den Hünen, nachdem sie sich vorgestellt hatte. Er überragte sie um gut zwei Köpfe.
    »Krank«, gab er wortkarg zurück und musterte Clara von oben bis unten, dann schielte er verstohlen über ihren Rücken hinaus auf die Straße, bevor er die Tür wieder schloss.
    »Krank?«, wiederholte Clara ungläubig. »Das ging aber schnell.« Offenbar hatte man das Nervenbündel aus der Schusslinie genommen. Der Mann zuckte mit den Achseln und antwortete nicht. Clara bemerkte eine Anstecknadel an seinem grauen Pullover, ein kleines, goldenes Kreuz. Sie erinnerte sich an das Kürzel neben Pater Romans Namen auf dem Gutachten. »Sind Sie auch Jesuit?«, wollte sie wissen, während sie neben ihm den Gang entlangging.
    Der Mann nickte. »Ich bin Pater Anselm«, sagte er, und sein Adamsapfel hüpfte nervös auf und ab, als hätte er etwas Ungehöriges von sich gegeben.
    Er erinnerte Clara an einen Flamingo. Einen rosa Flamingo in Hemd und Pullover. Als er sich zum Büro von Pater Roman wandte, wehrte Clara ab. »Ich gehe erst zu Frau Imhofen«, sagte sie. Pater Roman und das, was sie ihm zu sagen hatte, konnte noch warten. Sie ließ den jungen Mann am Treppenabsatz stehen und stieg die Stufen hinauf in den ersten Stock. Es herrschte die gewohnte klösterliche Stille, alle Türen entlang des Flurs waren verschlossen. Clara fragte sich, welche Schicksale sich dahinter verbergen mochten. Was war der Grund, weshalb manche Menschen mit dem Leben nicht mehr zurechtkamen, dass die einfachsten Verrichtungen des Alltags ihnen ohne fremde Hilfe nicht mehr gelangen? Oder anders herum, was war es, das einen normalerweise ganz automatisch dazu brachte, morgens aufzustehen, sich zu waschen, zu essen, in die Arbeit zu gehen? Was war der Stoff, der einen Menschen antrieb, der ihn ordnungsgemäß funktionieren ließ? Diese Frage flößte ihr Angst ein. Wenn man nicht wusste, was es war, was einen im Innersten zusammenhielt, gab es auch keine Gewissheit, dass dieser Halt von Dauer war. Keine Sicherheit. Jederzeit konnte alles auseinanderfallen, zerbrechen, und man stünde vor den Scherben, unfähig, sie wieder zusammenzusetzen.
    Sie schüttelte diese deprimierenden Gedanken ab und klopfte behutsam an Ruths Tür. Es kam keine Antwort, aber Clara hatte das auch nicht erwartet. Sie hob die Tüte mit den Malsachen, die sie für Ruth gekauft hatte, vor die Brust und trat leise ein. Ruth saß an ihrem Platz am Fenster und schien sie erwartet zu haben. Clara war froh, dass sie sich nicht wieder hinter der Tür versteckt hatte wie bei ihrer ersten Begegnung. Sie setzte sich auf den anderen Stuhl und schob ihr die Papiertüte hin: »Ich hoffe, ich habe das Richtige gefunden«, sagte sie lächelnd.
    Ruth warf ihr einen kurzen Blick aus ihren dunklen Augen zu und griff dann vorsichtig in die Tüte. Nacheinander zog sie mit bedächtigen Bewegungen einen Aquarellmalkasten, zwei Blöcke mit unterschiedlich rauem Papier, verschiedene Pinsel und eine kleine Schachtel mit Pastellkreiden heraus. Als alle Dinge aufgereiht vor ihr lagen, faltete sie zuerst die Papiertüte sorgfältig zusammen und legte sie auf das Fensterbrett, dann wandte sie sich Clara zu. Auf ihren grauen, müden Zügen erschien ein Lächeln, so vorsichtig, als fürchte sie, ihr Gesicht könnte davon beschädigt werden, etwas könnte abbröckeln wie spröder, trockener Putz, der durch eine Erschütterung von den Wänden platzt. »Danke«, sagte sie leise, und ihr Lächeln begann zu verblassen, als habe sie der Ton ihrer eigenen Stimme an etwas erinnert, das ihr das Lächeln verbot. Lediglich ein Hauch, ein mattes Leuchten in ihren Augen blieb

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