Brudermord
erwidern, aber Clara ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Ein Haftbefehl wäre nicht gerade das, was ihr weiterhelfen würde, nicht wahr?« Dann ging sie.
Zurück in ihrer Kanzlei, erwartete sie Linda mit einer Liste von Notizen: »Die Kriminalpolizei hat angerufen, ein Herr Kommissar Gruber bittet um Rückruf, Ihre Mutter hat auch angerufen, sie versucht es später noch einmal, dann noch zweimal irgendwelche Journalisten und eine Frau Lerchenberg …«
»Frau Lerchenberg?«, fragte Clara erstaunt. »Ist das die Frau von Dr. Lerchenberg?«
Linda zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, ja. Sie hat nichts weiter gesagt. Die Telefonnummer ist ein Anschluss in Starnberg.« Sie reichte Clara den Zettel. »Und dann war ich noch bei Gericht wegen der Akte …«, begann sie und machte eine bedeutungsvolle Pause.
»Ja?« Clara warf einen Blick auf ihren Schreibtisch. Er war, abgesehen von dem üblichen Aktenstapel, leer. Ihr schwante Übles. »Was ist mit der Akte? Haben sie sie nicht herausgegeben?«
Linda schüttelte den Kopf. »Sie ist nicht da.«
»Wahrscheinlich liegt sie bei der Kripo, wegen der neuen Ermittlungen«, vermutete Clara. »Da hätte ich auch gleich draufkommen können.«
»Nein! Die Polizei hat auch schon nachgefragt. Sie ist nicht da.«
»Wie bitte?« Clara starrte Linda an. »Das ist doch nicht möglich!«
Linda lächelte freudlos. »Das habe ich auch gesagt. Und die beiden Damen der Geschäftsstelle waren auch sehr unangenehm berührt. Sie haben sich große Mühe gemacht, zu rekonstruieren, wo die Akte geblieben ist.« Sie verstummte.
»Und?«, hakte Clara ungeduldig nach.
»Die Akte wurde an jemanden zur Einsicht übersandt und nicht zurückgeschickt. Aus Schlamperei hatte dies niemand bemerkt, bis dann nach ihr gefragt wurde.«
»Und wem wurde sie geschickt?«
Linda ließ sich mit der Antwort Zeit. Erst als ihr Clara einen drohenden Blick zuwarf, sagte sie: »Dr. Ralph Lerchenberg.«
Clara stöhnte. »Na prima! Wahrscheinlich wird sie nie wieder auftauchen.«
Sie ging nach oben an ihren Schreibtisch und ließ sich auf den Stuhl fallen. Es war wie verhext. Sie hatte das Gefühl, als ob sie mit beiden Beinen in einer zähen, klebrigen Masse feststeckte, und jeder Versuch, einen Schritt weiterzukommen lediglich dazu führte, dass sie noch tiefer in dem Brei versank. Lustlos klappte sie den Ordner auf, der das Wenige enthielt, was sie über Ruth Imhofen wusste, und begann weiterzulesen. Es war merkwürdig. Außer dem Schreiben Dr. Lerchenbergs und dem alten Gutachten gab es in der Akte nichts weiter als den Beschluss des Gerichts, in dem die Unterbringung Ruth Imhofens in Schloss Hoheneck mit sofortiger Wirkung aufgehoben wurde. Clara wunderte sich darüber, dass in der Entscheidung so gut wie keine Begründung, keine Einzelheiten über Ruths Krankheitsverlauf, ihre Heilung oder Ähnliches zu finden war. Das Gericht bezog sich lediglich auf ein neues Gutachten, das dem Beschluss beilag, und wonach bei Ruth Imhofen »zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Anzeichen einer psychischen Erkrankung vorhanden seien, die eine weitere Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt rechtfertigen könnten«.
Clara rieb sich müde die Augen und überlegte einen kurzen Augenblick lang, ob sie nicht möglicherweise doch eine Brille benötigte, dann schob sie diesen Gedanken schnell wieder weit weg in eine der hintersten Ecken ihres Bewusstseins, in der er sich zu ähnlich unbeliebten Gedanken an Falten um Augen und Mundwinkel und erste graue Haare gesellte.
Das neue Gutachten war aus der Sicht eines medizinischen Laien ebenso schwer verständlich wie das erste. Der Arzt bezog sich auf vielerlei neue Erkenntnisse in der Forschung, die alle mit Fachausdrücken bezeichnet wurden, die Clara noch nie gehört hatte. Die Schlussfolgerung unterschied sich jedoch ganz erheblich. Nach Ansicht dieses Arztes war Ruth Imhofen nach einer gewissen Anpassungsphase durchaus in der Lage, wieder ein selbständiges Leben in Freiheit zu führen, und stellte unter Berücksichtigung aller bekannten Faktoren »weder eine Gefahr für sich selbst noch für ihre Umwelt dar«.
Clara zog scharf die Luft ein, als sie diesen letzten Satz las. In der Haut dieses Arztes wollte sie nach dem Artikel in der Zeitung von heute Morgen nicht stecken. Sie las flüchtig die Unterschrift am Ende der Ausführungen, stutzte und las den Namen noch einmal. Dr. Roman Tenzer, SJ , stand dort unter der schwungvollen Unterschrift und eine ihr wohlbekannte
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