Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
Vom Netzwerk:
paar Meter vom Grab entfernt blieb er stehen und kramte in den Taschen seines Mantels nach einem Taschentuch.
    Clara ging auf ihn zu. »Guten Tag, Dr. Selmany«, sagte sie.
    Er sah sie misstrauisch an, während er sich mit dem Tuch über das Gesicht rieb. »Ja?«
    Clara stellte sich freundlich lächelnd vor. »Wir haben vor ein paar Tagen telefoniert. Es ging um Ruth Imhofens Krankenunterlagen.«
    »Ach ja, Sie sind diese Anwältin, nicht wahr?« Er war unsicher, bemühte sich vergeblich um eine würdige Haltung, was angesichts der Tatsache, dass er gerade in aller Öffentlichkeit angespuckt worden war, ein eher schwieriges Unterfangen darstellte.
    »Was wollen Sie denn noch?« Es sollte barsch klingen, doch die Angst dahinter war deutlich zu hören.
    »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass sich die Angelegenheit erledigt hat, Sie brauchen nicht weiter nach den Unterlagen zu suchen.« Claras Stimme war noch immer zuckersüß. Sie wusste genau, dass Dr. Selmany keine Sekunde damit verschwendet hatte, für sie nach irgendwelchen Unterlagen zu suchen.
    »Äh, ja, gut …« Er hob den Kopf, seine Unsicherheit war einer gewissen Wachsamkeit gewichen. »Wie meinen Sie das, erledigt?«, fragte er zögernd.
    »Die Akten sind wieder aufgetaucht. Ich habe sie bereits gelesen.« Und dann fügte sie aufgrund einer plötzlichen Eingebung noch bedeutungsvoll hinzu: »Alle!«
    Es war fast erschreckend anzusehen, wie blass Selmany bei diesen Worten wurde.
    »Sie … haben … Sie wissen …«, krächzte er heiser und lockerte mit zwei Fingern seine Krawatte, als bekäme er keine Luft mehr.
    Clara musterte den Arzt interessiert. Mit einer so heftigen Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Er würde doch wohl nicht umkippen? Doch gerade als sie sich nach möglichem Beistand umsah, packte Dr. Selmany sie am Arm. Clara fuhr herum. »Lassen Sie mich sofort los!«, fauchte sie ihn böse an.
    Dr. Selmany gehorchte augenblicklich. Mit einer beschwichtigenden Geste hob er beide Hände. Er hatte sich jetzt wieder gefangen. »Frau Anwältin, entschuldigen Sie, ich wollte nur … wir …« Er sah sich hektisch nach der Trauergemeinde um, die sich jetzt langsam in ihre Richtung bewegte, und senkte die Stimme. »Wir sollten uns noch einmal eingehend über die Sache unterhalten.« Er klang schmeichelnd. »Es wird Ihr Schaden nicht sein …«
    Clara sah ihn an. »Wissen Sie was?«, fragte sie langsam, und als Dr. Selmany hoffnungsvoll den Kopf hob, warf sie ihm einen verächtlichen Blick zu: »Ich hätte gute Lust, Ihnen zu zeigen, was ich von Ihnen halte, doch Frau Lerchenberg hat das schon ganz trefflich erledigt.«
    Dr. Selmany fuhr zurück, als hätte sie ihn geschlagen. Seine Augen verengten sich, und mit einem Mal sah er überhaupt nicht mehr gut aus. »Sie machen einen großen Fehler, Frau Niklas«, zischte er, und dann platzte es aus ihm heraus: »Dr. Lerchenberg dachte auch, er wäre so ungemein klug, und er war sich ja so sicher …« Er verstummte unvermittelt, ihm war bewusst geworden, was er eben gesagt hatte.
    Claras Mund verzog sich zu einem kalten Lächeln, obwohl ihr eher zum Schreien zumute war. »Ach, und da haben Sie ihn - bums - gegen einen Baum fahren lassen?« Als er nicht antwortete, meinte sie: »Bei mir müssen Sie sich etwas Besseres einfallen lassen, ich habe nämlich kein Auto.«
    Sie drehte sich um und ließ ihn stehen. Mit schnellen Schritten verließ sie den Friedhof und hatte dabei das unangenehme Gefühl, dass sich Dr. Selmanys Blicke in ihren Rücken bohrten.
    Sie ging den weiten Weg zurück in die Stadt, ohne auf ihre Mutter zu warten. Es tat ihr gut, durch die bekannten Straßen zu schlendern und dabei ihre Gedanken zu sortieren. Als Kind hatte sie es geliebt, ihre Großmutter zu besuchen. Am liebsten allein, ohne ihre lästigen Geschwister, die schon so groß waren und sich äußerst selten und dann immer nur sehr gnädig zu den Sonntagnachmittagsbesuchen herabließen. Und auch später noch, als Teenager, war sie immer gerne nach Starnberg gefahren. Oft war sie nach einem Streit mit ihren Eltern einfach in die S-Bahn gestiegen.
    Ihre Oma hatte sie nie zurückgeschickt, auch nicht, wenn ihre Mutter oder ihr Vater erbost am Telefon darauf bestanden hatten. »Die Kleine bleibt jetzt erst mal eine Nacht hier«, hatte ihre Antwort stets gelautet, »dann könnt ihr euch wieder beruhigen.«
    Clara war immer überzeugt gewesen, mit dem Wörtchen »ihr« meinte ihre Großmutter nur ihre Eltern, niemals sie. Sie durfte im

Weitere Kostenlose Bücher