Brudermord
ein sehr schönes Land sein, sagt man. Kulturell und überhaupt. Eine Wiege des Christentums. Wie hieß noch dieser Mönch? Du warst doch schon mal in Irland, Claraschätzchen, nicht wahr? Ich glaube mich zu erinnern …«
»Ich kannte einmal einen Franzosen«, wandte sich jetzt Frau Wiegerling an niemand Bestimmten, und ein versonnenes Lächeln spielte um ihren Mund. »Er hieß Jacques, oder war es Jean? Es war nach dem Krieg, Anfang der Fünfziger. Er nannte mich Elsie, und er trug immer so einen eleganten Hut …«
Clara legte die Gabel neben den Teller und faltete sorgfältig ihre Serviette. »Er heißt Mick«, sagte sie leise. »Und er ist, verdammt noch mal, kein Ire.« Niemand hörte sie. Als sie aufstand, hoben alle erstaunt den Kopf.
»Du gehst schon?«, fragte ihre Mutter und machte Anstalten, ebenfalls aufzustehen, um sie hinauszubegleiten.
Clara winkte ab, und es gelang ihr sogar ein halbwegs aufrichtiges Lächeln. »Danke für den Kaffee. Ich muss noch mal in die Kanzlei.« Sie verabschiedete sich von den beiden Damen und warf ihrer Schwester eine spöttische Kusshand zu. »Gute Heimreise, Schwesterchen!«
Jetzt saß sie zu Hause an ihrem Schreibtisch, vor sich die graue Mappe aus dem Koffer, den ihr Britta Lerchenberg gebracht hatte. Neugierig schlug sie sie auf und blätterte durch die Seiten. Es waren chronologische Aufzeichnungen, teils getippt, teils handschriftlich, immer von der gleichen Person verfasst. Ein Protokoll oder etwas in der Art. Am oberen Rand war immer das Datum vermerkt und das gleiche Kürzel, wie sie es bereits in Ruths Krankenunterlagen gesehen hatte: CS. Es folgten detaillierte Zustandsbeschreibungen von Ruth, die jede einzelne Regung zu umfassen schienen.
Clara überflog die Seiten und runzelte die Stirn. Was sollte das bedeuten? Sie blätterte weiter. Ganz hinten in dem Ordner waren ein paar Kopien von wissenschaftlichen Aufsätzen eingeheftet, die meisten in Englisch. Sie stammten alle aus den Siebzigern, zwei deutsche Artikel waren 1978 und 1980 verfasst worden.
Clara begann beim ältesten Artikel eines amerikanischen Psychologieprofessors aus Massachusetts und kämpfte sich mühsam durch die fremden Fachausdrücke. Vieles davon war unterstrichen und mit handschriftlichen Anmerkungen versehen. Clara verstand anfangs nur sehr wenig, der Artikel handelte offenbar von Untersuchungen, die an ehemaligen amerikanischen Kriegsgefangenen aus dem Koreakrieg durchgeführt worden waren. Der Autor bezog sich auf eine Studie aus den Sechzigern, die sich mit den Methoden der Folter und Gehirnwäsche des kommunistischen Regimes befasste.
An einem Satz blieb sie plötzlich hängen: » Wir sollten nicht zimperlich sein, die Erkenntnisse, die wir aus den Methoden und Möglichkeiten der Manipulation des menschlichen Gehirns gewonnen haben, auch auf unsere Wirklichkeit anzuwenden« , stand dort, und Clara überlegte, was hier wohl mit »unsere Wirklichkeit« gemeint sein könnte.
Sie wurde schnell fündig: Unumwunden stellte der Professor Überlegungen darüber an, wie sinnvoll es wäre, diese Methoden an Häftlingen in amerikanischen Gefängnissen zu testen. Jede Art von psychischer Folter wie beispielsweise das Vorenthalten von sensorischen Reizen, Isolationshaft oder ähnliche Methoden führten zu einem mental crack, einem Riss im geistigen Schutzmechanismus eines Menschen. Diese grundsätzlich negativen Auswirkungen der Folter könnten jedoch ins Positive umgewandelt werden, indem man diesen Riss dazu verwende, dem Kriminellen statt der unerwünschten Verhaltensweise ein von der Gesellschaft erwünschtes Verhalten einzuimpfen. Studien an Probanden hätten gezeigt, dass selbst bei kurzem Aufenthalt in einer Camera silens die Dinge, die ihnen währenddessen vermittelt worden seien, noch bis zu einem Jahr im Gehirn verankert geblieben seien, beispielsweise eine Vorliebe für ein bestimmtes Land, zu dem sie vor dem Versuch keinerlei Bezug gehabt hätten.
Clara zündete sich eine Zigarette an und starrte abwesend in die Luft. Folter, Gehirnwäsche … Versuche an Häftlingen … Sie versuchte, sich vorzustellen, dass so etwas möglich gewesen war, und zu ihrer Erschütterung fiel ihr diese Vorstellung nicht schwer. Guantanamo kam ihr unvermittelt in den Sinn und die Bilder von Gefangenen in orangefarbenen Anzügen mit Säcken über dem Kopf, am Boden kniend, gefesselt, in Käfigen aus Maschendraht. Eingesperrt ohne Prozess und ohne Aussicht auf Entlassung. Die perfekten Laborratten.
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