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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Clara fröstelte. Sie ahnte, weshalb diese Artikel hier abgeheftet worden waren, doch es widerstrebte ihr, den Gedanken zuzulassen. In ihrem Kopf schrillte ein Alarm, der sie hartnäckig auf etwas hinzuweisen begann, und sie konnte ihn nicht länger ignorieren. Langsam blätterte sie zurück und las diese unheimlichen, weil so grauenhaft wissenschaftlichen Artikel noch einmal, Satz für Satz. Da, da stand das Wort, über das sie unbewusst gestolpert war: Camera silens: CS .
    »Bei der Camera silens (lat. schweigender Raum ) handelt es sich um einen vollständig schallisolierten Raum ohne Tageslicht. Ein längerer Aufenthalt dort kann zu Halluzinationen und anderen Beeinträchtigungen der Wahrnehmungsfähigkeit führen. Die Camera silens wurde und wird teilweise als Folterinstrument verwendet. Aus experimentalpsychologischen Untersuchungen weiß man mit Gewissheit, dass solche Bedingungen in kürzester Zeit Menschen physisch und psychisch zerrütten können.« Clara starrte auf die Internetseite, auf der sie die Definition gefunden hatte, und die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Ihre Finger, die noch immer die längst schon heruntergebrannte Zigarette festhielten, zitterten. Deshalb war dieser elende Selmany also so erschrocken gewesen. Dieses Geheimnis zu wahren, war der Klinik einiges wert, darauf mochte sie wetten. Sie suchte weiter, klickte sich durch viele Seiten und erfuhr eine ganze Menge Dinge, die sie eigentlich gar nicht wissen wollte. Mit einer heftigen Handbewegung schaltete sie schließlich den Computer aus.
    Angewidert schaute sie auf die graue Mappe vor ihr, die sie, nachdem sie wusste, worum es ging, nochmals gründlich studiert hatte. Man hatte Ruth Imhofen und vermutlich nicht nur sie über acht Monate regelmäßig in einen schallisolierten Raum gesperrt und dabei die Aufenthaltsdauer stetig erhöht. Clara wusste nicht, wie lange eine Zeiteinheit dauerte, am Ende war der Aufenthalt jedoch mit 20 ZE angegeben. Die »Therapie« und deren Auswirkungen auf die Patientin waren akribisch festgehalten. So hatte Clara schaudernd erfahren, dass die Patientin mit zunehmender Aufenthaltsdauer in immer kürzeren Abständen »gravierende Verhaltensstörungen« aufwies, die auch nach der eigentlichen »Behandlung« noch nachdauerten und eine stete Erhöhung der Medikamentendosis erforderlich machten.
    Die Ärztin konstatierte eine zunehmende »emotionale Instabilität«, Verwirrtheit, Apathie und zeitliche und räumliche Desorientierung. Weiter war ein rapider Gewichtsverlust festzustellen. Diese Symptome wertete die Ärztin als positiv im Sinne der amerikanischen Forschungsansätze, da sich hieran der mental crack ausmachen ließe und damit die Möglichkeit einer therapeutischen Einflussnahme »zum Wohle der Patientin« eröffnet werde.
    Nach acht Monaten endeten die Aufzeichnungen jedoch abrupt. Jemand hatte auf das letzte Blatt »Therapie abgebrochen« gekritzelt - und Schluss. Keine Auswertung, keine Begründung, keine Dokumentierung etwaiger »Heilerfolge«. Nichts.
    Clara klopfte mit dem Stift auf die Mappe. »Da ist etwas schiefgegangen, irgendetwas ist aus dem Ruder gelaufen«, murmelte sie nachdenklich. Dann schaltete sie ihren Computer wieder ein.
     
    Es war kurz nach eins, als sie sich endlich von ihrem Schreibtisch erhob und sich mühsam streckte. Über drei Stunden hatte sie noch damit verbracht, in Gesetzeskommentaren zu stöbern, nach Gerichtsentscheidungen zu suchen und die Informationen, die sie hatte, zu sammeln und aufzuschreiben. Jetzt brannten ihre Augen, und sie war so müde, dass sie glaubte, kaum noch aufrecht stehen zu können, aber sie hatte einen groben Klageentwurf und eine Strafanzeige gegen die Klinik fertig. Das reichte noch nicht, aber es war ein Anfang. Es war etwas, was sie tun konnte und womit es ihr gelang, sich von den Bildern zu lösen, die in ihrem Kopf umherspukten und ihr Gänsehaut verursachten.
    Hoffentlich gelang es ihr, Ruth dazu zu bewegen, über das zu sprechen, was ihr in Schloss Hoheneck widerfahren war. Sie musste noch mal mit Pater Roman reden, brauchte detaillierte fachliche Informationen. Und sie musste die ehemalige Leiterin der Klinik zu fassen bekommen: Dr. Agnes Thiele. Sie war der Dreh- und Angelpunkt der ganzen widerlichen Geschichte. Sie hatte mit ihrem Gerichtsgutachten dafür gesorgt, dass Ruth Imhofen in Schloss Hoheneck untergebracht worden war, und sie war die Leiterin der Versuche gewesen. Kein Wunder, dass ihr Interesse daran, Ruth zu

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