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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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da saß er dann, zehn Jahre später, dieser arrogante Arzt im lässigen Sakko, und wieder hatte er ein Gutachten gemacht, das falsch gewesen war. Wieder hatte er ein Leben auf dem Gewissen. Wie konnte man damit nur weiterexistieren? Manche Menschen schwimmen eben immer oben. Wie die Fettaugen in der Suppe. Das hatte seine Mutter schon immer gesagt.
    Gruber blätterte durch die Akte. Diese Ruth Imhofen war schuldig. Er wusste es, er spürte es. Und er würde es beweisen. Daran konnte auch diese Anwaltstussi nichts ändern. Die ganz besonders nicht. Er zog aus dem Posteingangsfach die Kopie eines Schreibens, das ihm sein Kollege hatte zukommen lassen: Die Strafanzeige eines Journalisten gegen Frau Rechtsanwältin Niklas wegen Körperverletzung. Es war sogar ein ärztliches Attest angefügt, das dem Opfer eine Prellung des Nasenbeins und ein Hämatom unter dem Auge bescheinigte und ihn für drei Tage arbeitsunfähig schrieb. Na ja, das mochte übertrieben sein, wie diese Atteste es meistens waren, aber in diesem Fall war ihm das ganz recht. Er schob das Blatt in die Akte und lächelte zufrieden.
     
    Als Clara sich am Montag auf den Weg in die Kanzlei machte, war sie so beschwingt wie lange nicht mehr. Der Oktober hatte sich mit einiger Verzögerung doch noch darauf besonnen, dass er gemeinhin als »golden« bezeichnet wurde, und tat jetzt sein Bestes, um dieser Beschreibung gerecht zu werden: Er tauchte die Stadt in ein strahlendes, verheißungsvolles Morgenlicht. Claras Locken leuchteten mit dem Laub der Kastanien um die Wette, und ihre sonst so blasse Haut war nach der vielen Sonne und frischen Luft am Wochenende zart gerötet. Mick hatte nach ihrem Anruf am Samstagmorgen einen Freund gebeten, ihn im Pub zu vertreten, und hatte sie mit seinem alten, klapprigen Riesenjeep spontan zu einem Ausflug in die Berge abgeholt. Sie waren stundenlang an einem See spazieren gegangen und hatten in einer Pension übernachtet. Am nächsten Tag waren sie mit der Seilbahn auf einen Berg gefahren, was nicht nur Elise an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht hatte: In der an beiden Seiten offenen Gondel war nur Platz für zwei Personen bzw. eine Dogge und höchstens eine Person gewesen und weit und breit kein Platz, sich zu verkriechen. Elises verzweifelte Versuche, es trotzdem zu tun, hatten die Kabine bedenklich zum Schwanken gebracht und bei Clara für einen heftigen Schweißausbruch gesorgt.
    Claras Röte vertiefte sich, als sie an die anderen schönen Dinge dachte, die sie noch getan hatten und die ganz erheblich dazu beitrugen, dass sie heute Morgen wie auf Wolken über die Isarbrücke schwebte und nicht einmal mit der Wimper zuckte, als Elise ungezogenerweise mitten auf den Bürgersteig einen großen Haufen machte und Clara mit Hilfe einer Plastiktüte und unter den strengen Augen einer Passantin die Hinterlassenschaft entfernte und mit spitzen Fingern in den nächsten Mülleimer fallen ließ.
     
    In der Kanzlei erwartete sie Linda mit dem Telefonhörer in der Hand. »Ihre Mutter. Sie hat schon zweimal angerufen!«, flüsterte sie und drückte den Vermittlungsknopf. Ein fröhliches Klingeln ertönte auf Claras Schreibtisch.
    »Ja doch!«, murrte Clara und hechtete nach oben. Auf ihrem Schreibtisch wuchs ein Baum. Zumindest sah es so aus. Ein dicker Ast lag quer über ihren Akten und bröselte alte Blätter und Rindenkrümel auf Ordner und Papiere. Clara grabschte darunter und bekam das Telefon zu fassen. Ihre Mutter teilte ihr mit, dass am Nachmittag Ralph Lerchenberg beerdigt werden würde. Clara überlegte kurz, dachte an Lerchenbergs Frau und seine beiden kleinen Töchter und schluckte. Doch sie versprach, zu kommen. »Bis dann.« Ihre Mutter klang zufrieden, als sie sich verabschiedete.
    Clara musterte ratlos den Ast, der mit seinen knorrigen Ästen den Bildschirm verdeckte. Auf ihrer Schreibtischunterlage krabbelte eine einsame Ameise. »Was soll das?«, rief sie zu Linda hinunter, doch es war Willi, der antwortete.
    Mit einer Tasse Tee war er gerade aus der Küche gekommen und grinste: »Das waren Herr Kravic und seine Frau.«
    Clara stöhnte. Die Eheleute Kravic waren langjährige, jedoch wenig geliebte Mandanten von ihr, emsige Querulanten, die - wenn es nach ihnen gegangen wäre - schon die halbe Stadt verklagt hätten. Clara war es bisher immer gelungen, mit Geduld und indem sie ihnen eine ganze Menge wichtig und ernsthaft klingenden anwaltlichen Blödsinn erzählte, die Klagen auf ein halbwegs erträgliches Maß

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