Brudermord
ehemaligen Zimmer ihrer Mutter schlafen, im rosa geblümten Nachthemd ihrer Oma, und zum Frühstück gab es getoastetes Schwarzbrot mit Honig ans Bett, wenn nicht gerade Schule war. In diesem Fall war ihre Großmutter dagegen eisern und scheuchte sie in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett, damit sie ja pünktlich zurück in die Stadt kam.
Clara ging am See entlang über die Holzbrücke an der Bootswerft und dann quer über die große Wiese. In der Ferne zwischen den kahlen Bäumen sah sie schon die alte Villa ihrer Großmutter. Gesines silberner Audi parkte in der Einfahrt. Clara blieb stehen. Plötzlich kam es ihr nicht mehr so verlockend vor, mit ihrer Mutter noch eine Tasse Kaffee zu trinken, um die Beerdigung und ihre unangenehme Begegnung mit Dr. Selmany sacken zu lassen. Doch es war zu spät. Hinter ihr hupte es, und ihre Mutter fuhr winkend vorbei, neben sich und auf dem Rücksitz saßen die beiden Damen vom Kirchenvorstand.
Als Clara an diesem Abend nach Hause kam, war von ihrer morgendlichen Hochstimmung nicht mehr viel übrig geblieben. Das Kaffeekränzchen ihrer Mutter war anstrengend gewesen, die beiden Kirchendamen hatten sie unentwegt mit Fragen zu Ralph Lerchenberg gelöchert und die wildesten Mutmaßungen angestellt. Obwohl Clara nichts zu den Spekulationen beitrug, sondern nur nachdenklich ihren Kaffee trank, ab und zu nickte und zwischen zwei Bissen Schwarzwälderkirschtorte vage Antworten gab, waren am Ende beide sicher, dass der junge Doktor von dem finsteren Arzt mit dem ausländischen Namen irgendwie ermordet und dann ins Auto verfrachtet worden war, um es wie einen Unfall aussehen zu lassen.
Clara hätte ihnen gerne zugestimmt, doch andererseits wusste sie auch, dass es nicht so einfach war, einen Unfall vorzutäuschen, wie die beiden alten Damen meinten. Noch schwieriger würde es sein, es zu beweisen.
Eine der beiden, Frau Pronizius, die ihrem Yorkshireterrier mit roter Haarspange und fiesem Blick ein Tortenstückchen nach dem anderen zusteckte und der schlafenden Elise aus den Augenwinkeln misstrauische Blicke zuwarf, äußerte sogar die Vermutung, Dr. Selmany habe auch noch eine alte Dame aus ihrer Nachbarschaft auf dem Gewissen, die kürzlich offenbar ebenfalls verstorben war.
»Aber Esther, meine Liebe«, wandte Claras Mutter kopfschüttelnd ein. »Warum sollte jemand eine unschuldige alte Frau umbringen?«
Esther Pronizius zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich?« Und als ob dies schon als Motiv für einen Mord ausreichte, fügte sie noch hinzu: »Jedenfalls war sie auch so eine Psychoärztin.«
Die Reaktion ihrer Mutter auf diese abfällige Berufsbezeichnung und den sich daraus entspinnenden, üblichen kleinen Disput über Sinn und Unsinn von Psychotherapie »und all dem Zeugs, das es früher nicht gegeben hat«, folgte Clara nur mit halbem Ohr. Sie kratzte mit der Gabel die Sahnereste von ihrem Teller und grübelte über Dr. Selmany nach. Er war unglaublich erschrocken gewesen, als sie ihm gesagt hatte, sie habe die Unterlagen gelesen. Gab es möglicherweise noch mehr Leichen im Keller von Schloss Hoheneck? Die graue Mappe fiel ihr wieder ein. Sie musste sie heute Abend unbedingt lesen.
Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, als ihre Schwester sie ansprach. »Was hast du gesagt?«, fragte sie zerstreut.
»Ich habe gefragt, wie es deinem jungen Liebhaber geht«, wiederholte Gesine und lächelte vergnügt.
»Du hast einen Liebhaber?«, fragte ihre Mutter erstaunt. »Davon hast du mir gar nichts erzählt.«
»Einen jungen Liebhaber?«, fragte Elsbeth Wiegerling, die Freundin von Frau Pronizius, und goss sich Sahne in den Kaffee. »Wie jung?« Sie zwinkerte anzüglich, und angesichts der Tatsache, dass sie schon auf die achtzig zuging, musste Clara lächeln, obwohl sie ihrer Schwester lieber an die Gurgel gefahren wäre. »Gemessen am Alter meiner Schwester ziemlich jung«, gab sie spitz zurück, und die alte Dame kicherte entzückt.
»Und stell dir vor, er ist Ire «, fuhr Gesine unbeirrt fort, und es klang so, als handelte es sich dabei um eine besonders abstoßende Krankheit. Sie warf Clara einen unschuldigen Blick zu: »Ich hatte ja keine Ahnung, dass du Mutter deinen Nick verheimlicht hast.«
»Ire? Ach, du meine Güte!« Claras Mutter schüttelte den Kopf. »Man möchte meinen, von diesen Landsmännern hättest du die Nase voll, Liebes!«
Clara spürte, wie sie rot wurde. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Esther Pronizius unterbrach sie.
»Irland soll ja
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