Brudermord
zu reduzieren und sich auf die Fälle zu beschränken, die wenigstens ein Fünkchen Erfolgsaussicht in sich bargen.
»Was nun schon wieder? Hat der Ast Frau Kravic heimtückisch angegriffen?«, fragte sie und hob das Corpus Delicti von ihrem Tisch.
»Fast erraten! Der Angriff galt jedoch nicht Frau Kravic, sondern ihrem Toyota Corolla, der durch den Ast am Dach verkratzt wurde, als sie auf dem Weg zur Fußpflege war. Sie möchten jetzt die Fußpflegerin auf Schadensersatz und Schmerzensgeld verklagen.« Willis Grinsen wurde breiter, als er Claras erschüttertes Gesicht sah. »Herr Kravic hat den Täter gleich erkennungsdienstlich behandelt.«
Er deutete auf das Ungetüm, das Clara neben das Fenster gelehnt hatte, wo es sehr dekorativ wirkte. Sie folgte Willis Blick und bemerkte erst jetzt, dass einer der ausladenen Äste an der Spitze sorgfältig mit gelbem Leuchtklebeband umwickelt war.
Clara schaute Willi Hilfe suchend an. »Ich habe im Moment wirklich sehr viel um die Ohren, könntest nicht du … ausnahmsweise …?«
Willi schüttelte entschieden den Kopf. »Das kannst du vergessen.« Er quetschte sich hinter seinen Schreibtisch, schob einen Stapel dicker Kommentare vorsichtig auf die Seite und platzierte seine Teetasse daneben. »Ich habe ihnen gesagt, du hast die ganze Woche Termine bei Gericht, deshalb kannst du dich frühestens am Freitag bei ihnen melden. Sie waren sehr beeindruckt davon, dass du so eine viel beschäftigte Anwältin bist.«
Clara atmete auf. Sie würde sich um Herrn und Frau Kravic kümmern. Aber nicht heute, nicht jetzt. »Danke!« Sie wischte mit der Hand die Brösel von ihrem Tisch und warf die Blätter in den Papierkorb. Die Ameise hatte sich irgendwo verkrochen. Sie fühlte sich sicher einsam hier, so ohne ihren Staat, überlegte Clara flüchtig. Dachten Ameisen? Überlegten sie, wohin es sie verschlagen hatte? Suchten sie einen Weg zurück zu ihrem Volk? Na ja, vielleicht gab es doch noch wichtigere Dinge, als über das Schicksal einer Ameise nachzudenken. Sie stand auf, um sich einen Kaffee zu holen.
Als sie ein paar Stunden später in der S-Bahn nach Starnberg saß, fielen ihr die Eheleute Kravic wieder ein, und sie musste lächeln. Wer weiß, ob ihre Nerven diesen Beruf auf Dauer ausgehalten hätten, wenn unter den vielen bedrückenden Dingen, die bei ihr landeten, nicht immer wieder einmal auch ein Ehepaar Kravic gewesen wäre.
Der Friedhof von Starnberg lag ein wenig außerhalb des Ortes auf einem Hügel mit Blick auf den See. Die Trauergemeinde war groß, und Clara, die zusammen mit ihrer Mutter und zwei Kirchenvorstandsmitgliedern in den hinteren Reihen stand, versuchte zunächst vergeblich, Frau Lerchenberg zu erspähen. Erst als sich die Reihen der Trauernden ein wenig lichteten, sah sie die rundliche Gestalt im eleganten, schwarzen Kostüm.
Sie weinte ungeniert, ohne sich um die Tränen zu kümmern, die ihr über die Wangen liefen. Ihre Kinder hielt sie mit beiden Armen fest umklammert. Es waren zwei Mädchen, die größere von beiden, mit Pferdeschwanz und dichtem Pony, weinte genauso regungslos wie ihre Mutter, das kleine Mädchen trug zwei dünne Zöpfchen und blickte mit großen, verständnislosen Augen umher. Beide hatten Britta Lerchenbergs helle Haare geerbt. Ein Mann kam auf das Grab zu und warf eine Schaufel Erde hinein. Dann ging er auf die Witwe zu und wollte ihr die Hand reichen. Britta Lerchenberg ergriff sie nicht. Einen Augenblick lang verharrten beide wie Standbilder, er mit ausgestreckter Hand, die blonde Frau starr, mit verweinten Augen. Und dann spuckte sie ihn an.
Clara zuckte unwillkürlich zurück, genauso wie der Mann, der sich jetzt mit einer hastigen Handbewegung das Gesicht abwischte. Die umstehenden Trauergäste begannen zu flüstern, jemand machte eine schnelle Bewegung von hinten auf die Frau zu, ein älterer Herr mit gepflegtem Schnurrbart und gramverzerrtem Gesicht, Ralph Lerchenbergs Vater, wie Clara vermutete. Er legte den Arm um seine Schwiegertochter, beruhigend, stützend. Doch es war nicht nötig, Britta Lerchenberg zu stützen. Sie stand aufrecht und starrte den Mann, den sie gerade angespuckt hatte, noch immer unverwandt an. Endlich wandte sich dieser ab und ging.
Clara betrachtete ihn neugierig. Sie war sich sicher, dass es Dr. Selmany war. Er war nicht besonders groß, schlank, mit dunklen Haaren und ausgeprägten Geheimratsecken. Ein ziemlich gut aussehender Mann mit scharf geschnittenen Zügen und einer Adlernase. Ein
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