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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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nicht kannte.
    Niemand wusste, wo sie an dem Tag gewesen war, an dem Johannes Imhofen ermordet wurde. Warum hatte sie mit Pater Roman nicht darüber gesprochen? Es war nicht mehr als eine Ahnung, aber Clara hatte in Ruths Gegenwart immer das Gefühl, als sei das, was sie sah, etwas ganz anderes als das, was wirklich dahintersteckte. Zwei Bilder, zwei Personen, zwei Geschichten, und höchstens von einer Person kannte sie bisher einen Bruchteil.
    Sie zündete sich noch eine Zigarette an und sagte dann: »Hat Dr. Lerchenberg mit Ihnen darüber gesprochen, was damals … mit Ihnen gemacht wurde?«
    »Gemacht?«, wiederholte Ruth unsicher. »Was meinen Sie damit?«
    »Na ja«, Clara versuchte, die passenden Worte zu finden, ohne zu beschönigen und ohne das Wort Folter zu benutzen, das noch immer so bedrohlich in ihr nachhallte. »Die … Versuche, die man mit Ihnen angestellt hat«, sagte sie schließlich zögernd und hatte das Gefühl, sie beschäme Ruth mit diesem Satz, der sie wieder zum Opfer degradierte, erneut hilflos, allein durch die Wortwahl, die Sprache.
    Ruth antwortete nicht. Sie reagierte überhaupt nicht auf Claras Worte. Irgendwann, nach endlosen Minuten des Schweigens, schüttelte sie unmerklich den Kopf. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, sagte sie, und es klang abwehrend.
    Es war über dreiundzwanzig Jahre her. Zumindest, was die Aufzeichnungen anbelangte. Hatte sie es vergessen? Wohl kaum. Eher verdrängt. Clara dachte angestrengt nach. Sie musste einen Weg finden, mit Ruth darüber zu sprechen. Wenn Ruth selbst keine Aussage machen konnte, was mit ihr passiert war, würde eine Klage ziemlich schwierig werden.
    Sie ließ ihren Blick über die Gräber schweifen, über die scharfen Schatten, die sie in der Herbstsonne auf die geharkten Wege warfen, und fragte sich, ob Ruth heute auf ihrem Ausflug wohl neue Bilder gefunden hatte, die sie malen konnte. Bei diesem Gedanken richtete sie sich abrupt auf. Farben. Farben waren der Schlüssel zu Ruths Gedankenwelt.
    Sie drehte sich zu der Frau, die unbeweglich neben ihr saß und in die Ferne starrte. Clara griff nach ihrer Hand und spürte dabei, wie kalt ihre eigenen Finger waren. Als Ruth den Kopf hob und sie verwundert ansah, sagte sie leise: »Der Raum ohne Farben, Ruth. Erinnern Sie sich daran? Keine Farben, nur Weiß. »
    Clara spürte, wie Ruths Hand unter ihrer eigenen erstarrte. Ruth blinzelte einige Male heftig, dann nickte sie plötzlich und flüsterte: »Die weiße Kammer.«
    Clara schluckte. Sie konnte die Angst hören, die aus diesem tonlosen Flüstern sprach, eine bodenlose, von Grauen erfüllte Angst. Und es gab noch etwas anderes in Ruths Stimme, etwas hinter dieser Angst, was Clara nicht definieren konnte. Sie bekam eine Gänsehaut.
    »Die weiße Kammer«, wiederholte Ruth langsam, mehr zu sich selbst als zu Clara. »In dem die Gespenster wohnen. Sie warten auf dich, in den stillen, leeren Ecken, sie springen dich an, der Raum springt dich an, er will dich erdrücken, er presst dein Gehirn aus wie eine Zitrone …«
    Clara sprang auf. Sie spürte, wie ihre Hände zitterten. Sie konnte nichts davon hören. Nicht jetzt, nicht heute. Sie griff in ihre Tasche, suchte nach den Zigaretten, fand sie nicht, sie waren nicht mehr da, gerade eben waren sie doch noch da gewesen, sie begann zu wühlen, hektisch, voller Angst, dass noch mehr von Ruths Worten zu ihr durchdringen könnten.
    Jemand legte seine Hand auf ihre Schulter. Clara fuhr herum, schon spürte sie, wie ihr Herz wieder heftiger zu klopfen begann, Schlag für Schlag, immer schneller, ohne die Möglichkeit, es zu beruhigen, es würde sich immer weiter steigern, bis es sich überschlug, bis etwas durchbrannte in ihr, und sie würde umfallen, hier mitten auf dem Weg, hier an ihrem Lieblingsplatz, der Kopf würde ihr platzen …
    Ruth stand neben ihr und hielt ihr das Päckchen Zigaretten hin. »Setzen Sie sich«, sagte sie, und obwohl der Ton sanft war, duldete er keine Widerrede. Sie drückte Clara förmlich zurück auf die Bank.
    Clara gehorchte. Sie hielt die Schachtel Zigaretten in der Hand, ohne sich eine anzuzünden, und schloss die Augen. Langsam ließ das Herzklopfen nach. Als sie die Augen wieder öffnete, stand Ruth noch immer vor ihr und betrachtete sie prüfend. Clara gelang ein zittriges Lächeln, und Ruth lächelte zurück, ihre dunklen Augen waren warm vor Mitgefühl. »Haben Sie so etwas öfter?«, wollte sie wissen.
    Clara nickte, und ihre Wangen röteten sich. Was für

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