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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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hatte vor sich selbst Angst. Clara schnitt sich noch eine Scheibe Brot ab. Butterbrote schienen ihr plötzlich ein gutes Mittel zu sein, sich ihrer selbst zu vergewissern. Ich bin noch da. Es ist wie immer. Ich sitze in meiner Küche und esse ein Brot.
    War es möglich, dass das, was sie immer für Clara Niklas gehalten hatte, nur die Oberfläche von etwas ganz anderem darstellte? Dass es nur eine Fassade war? So dünn und brüchig wie das erste Eis über einem See? Und dass das, was sich darunter befand, keinen Halt bot, keine Sicherheit? Es benötigte nicht mehr als einen zaghaften Schritt in die falsche Richtung, und sie fiel ins Bodenlose.
    Sie schüttelte den Kopf. Sie würde das nicht zulassen. Und noch während sie das dachte, spürte sie ein anderes, wohlbekanntes Gefühl ihr Rückgrat heraufziehen, wie die plötzliche Wärme einer Wärmflasche: Sie war stur, stur wie ein Esel, sagte man, und sie konnte kämpfen. Und das, das würde sie verdammt noch mal tun!
    Sie stand auf und ging hinüber in ihr Schlafzimmer. Noch unterm Gehen streifte sie die Schuhe aus und zog sich den Pullover über den Kopf. Sie ließ alle Kleidungsstücke dort liegen, wo sie landeten, und kletterte ins Bett. Obwohl es erst kurz vor sechs war, fühlte sie sich so, als käme sie nach einer durchwachten Nacht im Morgengrauen nach Hause. Die Laken umfingen sie kühl und sicher. Sie zog sich die Decke bis zum Kinn und klopfte neben sich auf die Matratze.
    Als Elise, unsicher, ob das Angebot wirklich ernst gemeint war, angetrottet kam und abwartend vor dem Bett stehen blieb, murmelte Clara: »Heute pfeifen wir mal auf die gute Erziehung« und klopfte erneut. Da machte Elise einen kraftvollen Sprung, drehte sich einmal um sich selbst und ließ sich mit einem seligen Grunzen neben Clara nieder. Keine fünf Minuten später waren beide eingeschlafen.
     
    Clara schlief zwölf Stunden tief und traumlos. Als sie wieder aufwachte, war von ihrer desolaten Stimmung am Vortag nur noch das kämpferische Gefühl übriggeblieben. Obwohl sie wusste, dass das noch nichts bedeuten musste, nahm sie es einfach als gutes Zeichen und schwang die Füße aus dem Bett. Elise hatte in der Nacht ihren Standort gewechselt und lag jetzt zusammengerollt als großer grauer Berg auf Claras Bettvorleger. Nach einer schnellen Dusche verließ Clara zusammen mit ihrer grauen Gefährtin die Wohnung. Es war kurz nach halb sieben.
     
    Als Linda um neun die Kanzlei betrat, saß Clara bereits hinter ihrem Schreibtisch und wühlte in den Akten. Im Ofen brannte ein Feuer, das dem Raum die morgendliche Kühle nahm. Clara hatte bereits den restlichen Stapel Alltagskram diktiert, der jetzt in einem ordentlichen Aktenstapel auf Lindas Schreibtisch lag und Linda erleichtert aufseufzen ließ. Sie und Willi waren gestern wegen Clara richtiggehend besorgt gewesen. Als sie am Nachmittag von ihrem Treffen mit Ruth Imhofen zurückkam, hatte sie so merkwürdig ausgesehen, fast als ob sie Fieber hätte, und hatte sich auch seltsam benommen. Linda warf einen Blick nach oben, von wo ein fröhliches »Guten Morgen, Linda!« heruntertönte, und atmete auf. Alles in Ordnung, keine Katastrophen, Krankheiten oder sonstige Unwägbarkeiten drohten, sodass der Arbeitstag entspannt beginnen konnte.
     
    Linda mit ihrem pragmatischen Gemüt hatte sich längst schon in Claras Diktat vertieft, und ihre Finger huschten geschäftig über die Tastatur, als ein heftiger Fluch sie zusammenfahren ließ. Hastig nahm sie die Kopfhörer ab. »Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte sie aufgeschreckt.
    Clara gab keine Antwort. Wie versteinert saß sie an ihrem Platz, den Blick ins Leere gerichtet. »Er hat es gar nicht gewusst«, murmelte sie vor sich hin. »Bis dahin hat er es gar nicht gewusst.« Und mit einem Mal fügte sich alles zusammen. Ihre Ahnung, dass noch etwas fehlte, ihr gestriges Gefühl, das leider von ihrer Unpässlichkeit ein wenig aus dem Blickfeld geraten war, die Fragen, die ihr auf der Zunge gelegen hatten. All das war richtig gewesen. Sie blätterte hastig in der Akte nach der Telefonnummer von Frau Lerchenberg. Nur sie konnte ihr Gewissheit geben. Sie fand die Nummer auf einem Klebezettel, sorgfältig von Linda notiert und in die Innenseite des Aktendeckels geklebt. Während sie dem leisen Tuten am anderen Ende der Leitung lauschte, hoffte sie inständig, Britta Lerchenberg wäre da. Sie war sich zwar sicher, dass sie mit ihrer Vermutung recht hatte, brauchte aber trotzdem noch eine

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