Brudermord
Bestätigung. Eine Kinderstimme meldete sich. Nachdem Clara darum gebeten hatte, mit Frau Lerchenberg sprechen zu dürfen, hörte sie schnelle Trippelschritte und in der Ferne ein lautes »Maaama, da ist eine komische Frau am Telefon!«
Clara überlegte, womit sie die Bezeichnung komisch verdient hatte: War es ihre Stimme? Klang die etwa komisch? Sie räusperte sich.
Britta Lerchenberg klang ziemlich außer Atem, als sie endlich ans Telefon kam. »Ja, bitte?«
Clara räusperte sich erneut. »Guten Morgen, hier ist Clara Niklas. Ich hätte bezüglich der Unterlagen noch eine Frage.« Sie bemühte sich, nicht allzu aufgeregt zu klingen.
»Ich habe Ihnen wirklich alles gebracht, was Ralph hatte«, gab Frau Lerchenberg zurück. »Ich habe nichts mehr!« Sie klang abwehrend, und im Hintergrund war Kindergeschrei zu hören. Frau Lerchenberg wandte sich ab und rief etwas, was Clara nicht verstehen konnte, dann war sie wieder da: »Hören Sie, Frau Niklas, ich muss wirklich …«
»Bitte! Nur einen Augenblick!«, bat Clara. »Sie sagten doch, Ihr Mann habe die Unterlagen am Montag vor seinem Tod aus der Klinik geholt …«
»Ja?«
»Waren diese Ordner alle zusammen in dem Koffer …«
»Die Sachen waren überhaupt nicht in dem Koffer. Er hat sie lose mitgebracht. Ich habe sie nur in den Koffer von Frau Imhofen getan, um sie besser transportieren zu können …«
«Das ist Ruth Imhofens Koffer?«, unterbrach Clara sie erstaunt.
»Ja. Bei ihrem Auszug aus der Klinik hatte Ralph vergessen, ihn mitzunehmen, sie hat ja kaum Sachen gehabt, die passten in eine kleine Tasche. Ruth hat aber immer wieder nach dem Koffer gefragt, und Ralph hat ihn schließlich geholt und wollte ihn ihr bringen. Er kam nur nicht mehr dazu …« Sie verstummte.
Clara wartete ein paar Sekunden dann hakte sie vorsichtig nach. »Hat Ihr Mann die Akten an dem Abend noch mal gelesen?«
»Nein. Er kannte sie doch schon. Er hat sie in sein Arbeitszimmer gebracht …« Sie unterbrach sich. »… nein, warten Sie, jetzt wo Sie danach fragen … er hat doch noch etwas gelesen! Wie konnte ich das nur vergessen? Er hat sich merkwürdig verhalten, war vollkommen abwesend. Ich war wütend deswegen, habe ihn sogar angeschrien: Musst du deine ganze Energie dieser Frau opfern, bleibt denn nichts mehr für uns …« Ihre Stimme wurde leiser. »Er hat gar nicht reagiert. Wie angewurzelt saß er an seinem Schreibtisch, und ich bin dann ohne ihn ins Bett gegangen. Er ist erst gekommen, als ich schon eingeschlafen war.« Ihre Stimme erstarb. Clara hörte, wie sie sich schneuzte, dann war Frau Lerchenberg wieder am Apparat: »Warum fragen Sie mich das alles?«
»Ich werde es Ihnen später erklären«, versprach Clara. »Nur noch eine letzte Frage: Sie sagten mir, Dr. Selmany sei bei Ihnen gewesen und wollte die Krankenakten haben?«
»Ja. Er war am Sonntagabend hier, vor der Beerdigung. Er war ziemlich unangenehm, hat immer wieder gefragt, ob ich noch ›Klinikeigentum‹ bei mir hätte.«
»Haben Sie ihm gesagt, dass Sie die Akten haben?«, wollte Clara wissen.
»Nein! Natürlich nicht. Ich habe mich dumm gestellt und gesagt, ich wüsste nichts von irgendwelchen Unterlagen. Habe mich nie um geschäftliche Angelegenheiten meines Mannes gekümmert, blabla. Ich denke, er hat es mir geglaubt.«
»Davon bin ich überzeugt.« Clara musste lächeln. Deshalb war Selmanys Entsetzen so groß gewesen, als Clara ihm auf dem Friedhof eröffnet hatte, sie habe die Akten. Dann bedankte sie sich bei Frau Lerchenberg und legte auf.
Nachdenklich malte sie Kringel auf ihre Schreibtischunterlage. Das war es, was ihr noch gefehlt hatte. Das war es gewesen, was Clara gestern bei ihrem Gespräch mit Ruth herausgehört hatte, ohne es greifen zu können: Ralph Lerchenberg hatte nie mit Ruth über die weiße Kammer gesprochen. Als er begonnen hatte, sich um Ruths Entlassung zu kümmern, hatte er von der camera silens noch gar nichts gewusst. Ihm waren nur die Versäumnisse der Klinik und der Gerichte aufgefallen, nicht aber, was noch dahintersteckte. Deshalb war ihm bis zu dem Tag auch gar nicht klar gewesen, wie wichtig es für die Klinik war, dass Ruth unter ihrer Aufsicht blieb. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass die Klinik mehr zu verbergen hatte als bloße Schlamperei, auch wenn das schon schlimm genug gewesen wäre. Und als er es entdeckte, als ihm der Umfang der ganzen Sache klar wurde, hatte er am Dienstagmorgen Selmany zur Rede gestellt.
Und war dann aus Verzweiflung gegen
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