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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Kanzlei und jedes einzelne Geschäft, in dem sie schon einmal etwas gekauft hatte, und redete dabei die ganze Zeit: Erzählte Geschichten, Anwaltsanekdoten, lustige Begebenheiten mit Elise, schmückte aus, übertrieb schamlos, und am Ende gelang es ihr sogar, Ruth zu überreden, sich etwas Neues zum Anziehen zu kaufen. Den Höhepunkt ihres Ausfluges jedoch hatte sie sich für den Schluss aufgespart. Sie führte Ruth, die die ganze Zeit stumm, von Zeit zu Zeit mit einem verwunderten Lächeln auf den Lippen, neben ihr hergelaufen war und jetzt mit einer rotbraunen Cordhose, einem passenden Pullover und einer neuen Jacke ganz verändert aussah, zu ihrem Lieblingsplatz, dem alten Südfriedhof. Als Clara das Tor aufdrückte, blieb Ruth stehen, die Tüte mit ihren alten Kleidern, dem ausgeleierten Jogginanzug und der viel zu großen Jacke, fest an die Brust gepresst.
    »Dürfen wir das denn?«, fragte sie, zögernd, atemlos vom schnellen Gehen.
    Clara wollte gerade antworten, ja, natürlich, das ist ein öffentlicher Park, doch dann hielt sie inne. Irgendetwas in Ruths Stimme ließ sie zögern. Sie hatte wie ein Kind geklungen, ängstlich und gleichzeitig voller Sehnsucht danach, etwas Verbotenes zu tun. Claras Blick schweifte über die hohen Mauern, die den Friedhof verbargen. Eine andere Welt mochte dahinter auf sie warten. Sie schüttelte den Kopf, sah sich um und öffnete leise das Tor. »Kommen Sie, schnell!«
    Und tatsächlich, Ruth huschte verschwörerisch kichernd an ihr vorbei.
    Clara folgte ihr mit einem Anflug schlechten Gewissens. Sie wollte diese Frau nicht auf den Arm nehmen. Sie konnte gar nicht genau sagen, warum sie das getan hatte. Es war einfach nur das Gefühl gewesen, das Richtige zu tun. Ruth stand in der Mitte des Hauptweges, den Kopf in den Nacken gelegt, und betrachtete die Wipfel der alten Bäume. Blau schimmerte der Himmel durch die kahlen Zweige. Wie hatte Ruth den Himmel in München genannt? Nah und dicht und leuchtend. Sie hatte recht mit ihrer Beschreibung. Dieses Oktoberblau wirkte, als säße es direkt auf den Zweigen. Sie schlenderten ein wenig umher, bogen in kleine, schattige Seitenwege ein, gingen an der hohen Mauer entlang, die grün von der Feuchtigkeit war, und ließen sich schließlich auf einer sonnenbeschienenen Bank nieder.
    Clara zögerte, bevor sie mit dem Sprechen anfing. Sie wollte diesen Moment ungern zerstören. Ruth hatte förmlich aufgeatmet. Ähnlich erging es ihr immer, wenn sie mitten in einem hektischen Arbeitstag den Stift fallen ließ, das Diktiergerät ausschaltete und ohne ein Wort verschwand und hierherflüchtete. Doch es war eine einmalige Gelegenheit, und sie musste sie nutzen. Um Ruths willen.
    »Ich habe Ihre Krankenakten gelesen«, begann Clara und zündete sich eine Zigarette an. »Ralph Lerchenbergs Frau hat sie mir gebracht. Wir müssen darüber reden, was passiert ist.«
    Ruth antwortete nicht sofort. Sie starrte auf ihre Hände, die reglos in ihrem Schoß lagen. Dann sagte sie: »Halten Sie mich für verrückt?«
    Schon wieder dieses Wort. Was sagte das schon aus? Clara wurde plötzlich wütend auf diese leeren Begriffe, die man Menschen aufklebte wie Beschriftungen auf Aktendeckel: Verrückt, normal, verrückt, normal.
    Sie seufzte. »Ich halte Sie nicht für krank.« Sie rauchte nachdenklich weiter, dachte an ihren Anfall von Panik an diesem Morgen und fügte hinzu: »Sie sind genauso normal oder verrückt, wie ich es bin.«
    Ruth sah sie an. Dann fing sie an zu lachen. »Eine verrückte Anwältin also? Dann bin ich ja beruhigt!«
    Clara musterte ihre Mandantin nachdenklich. Sie hatte etwas an sich, was sie verwirrte. Zeitweise verhielt sie sich seltsam, passiv, wie in Trance, und dann gab es Augenblicke wie diesen, in denen Witz und Ironie zum Vorschein kamen, kluger Spott und die Fähigkeit, über sich zu lachen, etwas, was nicht zu ihrem sonstigen Verhalten zu passen schien. Es war, als blitze unter dem Schutzwall von Trägheit und Passivität für ein paar Momente die alte Ruth hervor, eine ganz andere Person als die, die Clara neben sich sitzen sah. Es war ein beunruhigendes Gefühl. Obwohl Clara sich für Ruth wünschte, es möge ihr gelingen, wieder mehr von ihrer wirklichen Persönlichkeit ans Licht zu lassen, verunsicherte sie der Gedanke. Sie wusste nicht, woran sie mit dieser Frau war. Sie schien verletzlich und labil, extrem in sich zurückgezogen und doch irgendwie planvoll, zielstrebig, auf eine kaum fassbare Weise, weil man dieses Ziel

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