Brudermord
ihrem Schreibtisch liegen geblieben war, und in wenigen Stunden das Pensum von Tagen erledigt. Alles, nur um nicht an die Panik, dieses Gefühl der Todesangst denken zu müssen, das sie am Morgen gepackt hatte, sonst würde sie die Angst davor, dass es zurückkam, noch tagelang verfolgen.
Elmar öffnete ihr. Er war blass und schien noch genauso nervös wie an dem Tag, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. »Na, wieder gesund?«, fragte sie und musterte ihn prüfend. Er sah nicht besonders fit aus.
»Wie? Oh, äh, ja, so einigermaßen.« Er hüstelte angestrengt.
Clara klopfte ihm auf die Schulter. »Anstrengender Job, nicht wahr?«, meinte sie spöttisch.
Ihr Spott kam nicht gut an. Elmar wurde noch blasser und biss sich mit seinen Hasenzähnen auf die Unterlippe. Er gab keine Antwort. Clara zuckte mit den Schultern und ließ den jungen Mann, der mehr denn je aussah wie ein verstocktes Kaninchen, einfach stehen.
Als sie an Ruths Tür klopfte, kam wie üblich keine Antwort. Sie trat ein und blieb überrascht stehen. Ruth saß am Boden, inmitten einer Flut von Blättern, die überall um sie herum verteilt lagen, und hatte ihr Gesicht in den Händen vergraben. Ihre Schultern zuckten. Sie hatte Clara gar nicht bemerkt.
»Frau Imhofen?«, flüsterte Clara zaghaft. Sie wollte die Frau nicht erschrecken. Doch es kam keine Reaktion. Clara stieg vorsichtig über die Blätter und ging vor Ruth in die Knie. Behutsam zog sie ihr die Hände vom Gesicht. »Frau Imhofen! Ich bin es, Clara Niklas.«
Ruth sah sie an. Sie hatte verweinte, dick geschwollene Augen, und die Tränen liefen ihr noch immer über das gerötete Gesicht. Dünne Strähnen ihres dunklen Haares klebten auf den Schläfen und auf der Stirn. »Nennen Sie mich nicht so, bitte«, flüsterte sie, kaum zu verstehen.
»Wie soll ich Sie denn nennen?«
»Ruth. Einfach nur Ruth.«
Clara nickte: »In Ordnung, Ruth.« Sie setzte sich neben sie und streckte vorsichtig die Beine zwischen den Blättern aus. Es waren alles gemalte Bilder, alle nur halb fertig, und immer das gleiche Motiv: Ein gelbes Haus, ein Apfelbaum, ein Kirchturm in der Ferne.
»Sie haben angefangen zu malen?« Clara nahm eines der Bilder und betrachtete es. Die Farben waren blass, fast zaghaft verteilt, und gaben dem Motiv etwas Verwunschenes, wie ein Traumbild.
»Das ist schön.« Sie nahm ein anderes Blatt. Hier waren nur ganz wenige Flächen coloriert, dann brach der Pinselstrich abrupt ab, als hätte man die Hand weggerissen.
Ruth riss ihr das Blatt aus den Fingern und schleuderte es mit einer heftigen Bewegung weg. Es verharrte einen Augenblick in der Luft, dann segelte es in weichen Kurven zu Boden und legte sich zu den anderen unvollendeten Bildern. Ruth begann wieder zu weinen.
Clara betrachtete sie einen Moment ratlos, dann fragte sie: »Was ist mit Ihnen, warum sind Sie so traurig?«
»Die Farben«, sagte Ruth leise und wischte sich die Augen. »Es sind die Farben. Ich bekomme sie nicht mehr hin. Jahrelang waren sie in meinem Kopf, das Gelb, warm und satt, wie dicke Butter auf einer Scheibe Brot, und der Himmel war durchsichtig, als ob er hinter Glas wäre, dieser weite Himmel, nicht wie hier, so nah und dicht und leuchtend, das Blau eher wie ein Windstoß, ein flüchtiges, fernes Blau.« Sie schluchzte auf.
Clara sah sich die Bilder an und dachte an die stille Kammer und an das, was ihr Ruth vor einiger Zeit auf ihre Frage nach der Klinik gesagt hatte: »Es gibt keine Farben, nur Weiß.« Sie hatte Mühe, Ruths Beschreibung zu folgen, dazu hatte sie sich bisher zu wenig mit Farben und Malerei beschäftigt, aber trotzdem konnte sie nachfühlen, was Ruth meinte. Nicht mit ihrem Verstand, aber mit ihrem Bauch, irgendwo in ihren Eingeweiden konnte sie Ruths Schmerz mitfühlen, ohne dass sie in Worte hätte fassen können, was genau es war, das sie so verzweifelt machte. Clara nahm noch einmal das fast fertige Bild mit den blassen Farben zur Hand und sagte langsam: »Das Haus, Sie verbinden eine schöne Erinnerung damit?«
Ruth nickte. »Ich bin einmal dort gewesen, vor … davor. Einen Sommer lang. Ein Dorf an der Küste. Nordsee.«
Clara ließ das Bild sinken. Ihr Blick wanderte zum Fenster. Plötzlich wusste sie, was zu tun war. Sie sagte, leise, mehr zu sich selbst als an Ruth gerichtet: »Sie brauchen neue Farben, neue Bilder.« Sie sprang auf. »Kommen Sie! Wir machen einen Ausflug.«
Clara zog mit Ruth los. Sie ging mit ihr durch das ganze Viertel, zeigte ihr ihre
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