Brudermord
selten, und jetzt sagte es ihm, diese Frau war schuldig. Er war sich sicher, so sicher, dass er sie am liebsten sofort verhaftet hätte. Aber er zwang sich zur Geduld. Irgendetwas würde sich ergeben, irgendwo würde sich ein weiterer Anhaltspunkt auftun. Er holte sich einen Kaffee und beglückwünschte sich selbst zu seiner Gelassenheit.
Und er sollte nicht enttäuscht werden. Kaum hatte er sich wieder hinter seinen Schreibtisch gesetzt und den Vorhang gegen die grelle Vormittagssonne ein wenig zugezogen, passierten gleich zwei Dinge, die von ganz unerwarteter Seite Bewegung in den Fall Ruth Imhofen brachten.
Zunächst klingelte das Telefon auf der externen Leitung. Als der Anrufer mit zögernder Stimme seinen Namen nannte, richtete sich Gruber in seinem Sessel kerzengerade auf. Er blätterte rasch in der Akte Imhofen und fand den Namen ganz am Anfang. Kollegin Sommer hatte die Befragung durchgeführt und mit Bleistift ein dickes Ausrufezeichen neben die Aussage gemalt. Benimmt sich verdächtig, sollte das heißen, noch mal nachhaken. Kommissar Gruber verabredete sich mit dem Anrufer um halb zwölf in seinem Büro im Präsidium. Als er auflegte, spielte ein zufriedenes Lächeln um seine Lippen. »Wer sagt’s denn?« Manchmal musste man nur warten können. Und wenn alles so lief, wie er es sich vorstellte, würde er nicht nur den Fall Imhofen in Rekordzeit lösen, sondern auch noch diesen gemeingefährlichen Pfuscher aus dem Verkehr ziehen. Roman Tenzers Tage waren gezählt. Mit oder ohne göttlichen Beistand.
Keine zwei Minuten später klingelte das Telefon erneut. Diesmal war es sein Kollege, der ihm schon die Strafanzeige des Journalisten hatte zukommen lassen. Es sei gerade jemand bei ihm, der ebenfalls Anzeige gegen Rechtsanwältin Niklas erstatten wolle.Wegen Diebstahls bzw. Unterschlagung von Krankenhausunterlagen. Ob Gruber mit dem Herrn sprechen wolle? Und ob Gruber das wollte.
»Schick ihn rauf, ich nehme die Anzeige gleich selber auf«, bellte er ins Telefon und machte sich gleichzeitig eine Notiz: Rechtsanwaltskammer informieren!
Wenige Augenblicke später klopfte es an die Tür, und ein schlanker, dunkelhaariger Mann um die fünfzig kam herein. Er hatte ein scharf geschnittenes Gesicht und eine Adlernase. Mit einem feinen Lächeln reichte er Gruber die Hand. »Guten Morgen, Herr Hauptkommissar, mein Name ist Viktor Selmany.«
Clara lehnte sich zurück und atmete auf. Ihre Hände hatten aufgehört zu zittern und waren nicht mehr schweißnass und kalt bis auf die Knochen. Ihr Magen war wohlgefüllt, und Elises Kopf ruhte warm und schwer auf ihren Füßen. So eine Panikattacke hatte sie schon lange nicht mehr erlebt, eigentlich seit Jahren nicht mehr. Sie begann sich beklommen zu fragen, ob sie die Richtige für diesen Fall war. Wie konnte sie ihrer Mandantin helfen, wenn sie bereits bei der Vorstellung, in einen engen Raum eingeschlossen zu sein, an den Rand eines Nervenzusammenbruchs geriet? Wie konnte sie ihr helfen und gleichzeitig ihre eigenen Gespenster in Schach halten? Sie wusste es nicht. Andererseits wusste sie aber, dass sie jetzt den Fall nicht mehr würde abgeben können. Nie und nimmer. Nicht nach dem, was sie erfahren hatte.
Sie fühlte sich wie einer dieser Helden in den Fantasybüchern, die ihr Sohn so geliebt hatte: Am Beginn einer gefährlichen Reise, von der man nicht wusste, wohin sie einen führte und von der es kein Zurück gab. Doch anders als in den Büchern lauerten in ihrem Fall die Gefahren nicht am Wegesrand, sondern in ihr selbst, in ihrem eigenen Kopf, in ihrem Geist. Clara zündete sich eine Zigarette an, und zum zweiten Mal an diesem Morgen erschien in ihren Gedanken der verlockende Ruf nach einem kleinen Glas Redbreast, es konnte auch Prosecco sein, zur Not, das war morgentauglicher, sah besser aus, fast normal … Clara kniff die Augen zusammen und nahm einen tiefen Zug von der Zigarette. Das Nikotin fuhr ins Blut und stieg ihr ins Gehirn, sie konnte seine Bahn förmlich nachspüren. Dann hob sie die Hand und bestellte bei Rita einen zweiten Cappuccino. Als er vor ihr stand und das Whiskeybild in ihrem Kopf langsam verblasste, traten ihr Tränen in die Augen. Sie hatte Angst. So eine Scheißangst.
Als Clara am frühen Nachmittag vor dem Haus Maximilian stand und wartete, bis ihr jemand öffnete, fühlte sie sich wieder einigermaßen normal. Nach dem Frühstück bei Rita hatte sie sich wie eine Bessessene in die Arbeit gestürzt, die wegen Ruth Imhofen auf
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