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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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scheinen.« Er zählte an den Fingern auf: »Erstens, Ruth Imhofen hat kein Alibi für die Tatzeit, sie war den ganzen Tag verschwunden, und eine Zeugin hat sie offenbar am Tatort gesehen. Zweitens, ihr Bruder wollte nicht, dass sie entlassen wird, er hat sich nicht um sie gekümmert, sie könnte also einen ziemlichen Hass auf ihn gehabt haben, vielleicht ist da auch noch etwas aus ihrer Zeit vor der Klinik, irgendeine alte Geschichte. Drittens, sie war vierundzwanzig Jahre eingesperrt, man hat ihr Schlimmes angetan, und niemand weiß, wie sich das auf ihr Verhalten, ihre Psyche ausgewirkt hat. Und dann, last but not least: Sie hat schon einmal einen Menschen getötet.«
    »Aber das war kein Vorsatz, sie stand damals unter Drogen, vielleicht war es sogar Notwehr …«, gab Clara leise zurück und hörte selbst, wie schwach ihre Argumentation klang. Willis nüchterne Aufzählung hatte etwas Zwingendes. Sie klang so logisch, so einleuchtend.
    »Du möchtest, dass sie es nicht gewesen ist, Clara.«
    Clara zündete sich eine Zigarette an. »Warum sollte ich das wollen? Es ist ein Fall, nichts weiter.« Sie spürte, wie ihre Finger leicht zitterten.
    Willi lachte.
    Clara starrte ihn böse an. »Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt!«
    Willi war schon wieder ernst. Er nahm ihre Hand. »Clara, wann bitte war jemals etwas nur ein Fall für dich?«
    Clara seufzte. »Vielleicht hast du ja recht. Aber wenn ich mir überlege, was mit Ruth passiert ist, wenn ich mir vorstelle, man würde mich ein Vierteljahrhundert in eine Klinik sperren, würde Versuche mit mir anstellen, mich in ein winziges Zimmer sperren, ohne Tageslicht, und niemand wäre da, dem ich vertrauen könnte, der mir helfen könnte …« Sie spürte, wie sie zu zittern begann.
    Willi legte seinen Arm um sie und hielt sie fest.
    Clara ließ den Kopf auf seine Schulter sinken. Ihre Augen brannten, und sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick unkontrolliert losheulen zu müssen. Sie konnte diesen Fall nicht weiterverfolgen. Nicht in dieser Verfassung. Aber sie konnte ihn auch nicht abgeben. Sie konnte Ruth nicht im Stich lassen. Gerade jetzt, wo sie begonnen hatte, sich ihr gegenüber ein wenig zu öffnen.
    Clara hatte das Gefühl, etwas Schweres lege sich um ihren Brustkorb, drücke ihr die Luft ab, und plötzlich fühlte sie wieder ihr Herz schlagen, heftig und schmerzhaft, ganz oben in ihrer Brust, wie etwas Fremdes, das nicht zu ihr gehörte und von dem man nicht wusste, was es als Nächstes tun würde: zerspringen? Aufhören zu schlagen?
    Sie schüttelte Willis Arm ab und sprang auf. »Entschuldige bitte, aber ich muss für einen Moment raus!« Noch während sie fluchtartig Ritas Bar verließ, murmelte sie vor sich hin: »Das muss aufhören. Das muss aufhören.« Immer wieder, wie ein Mantra. Sie lief durch die Straßen, so schnell, dass ihr Passanten verwunderte Blicke nachwarfen, und wurde erst langsamer, als die Isarbrücke in Sicht kam. Ihr Atem ging heftig, und ihr Herz klopfte, aber jetzt normal vor Anstrengung, und es saß auch wieder an seinem üblichen Platz.
    Sie blieb an der Brücke stehen. Die Auwiesen lagen weit und leer vor ihr. Nur wenige Spaziergänger waren in der Ferne zu sehen, verschwommen im milchigen Licht des Vormittags. »So geht das nicht weiter. Das muss aufhören«, murmelte Clara ein letztes Mal und spürte den Worten nach. Konnte man mit Worten etwas ändern? Konnte man den Dingen Befehle erteilen? Welchen Dingen überhaupt? War das nicht alles sie selbst?
    »Aufhören!« Sie sagte es lauter, und es fühlte sich besser an. Sicherer. »AUFHÖREN! ES MUSS AUFHÖREN!«, schrie sie so laut sie konnte in den diesigen Himmel.
    Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf eine Frau, die auf der anderen Seite der Brücke stand und kopfschüttelnd zu ihr herüberblickte. Sie trug einen beigefarbenen Popelinemantel und beigefarbene Schuhe. Ihre Handtasche war ebenfalls beige. Sie dachte an Ruth. Ruths Farben fielen ihr ein. »Sie sollten sich ein paar Farben zulegen!«, rief sie zu der Frau hinüber, die peinlich berührt den Blick von Clara abwandte. »Rot vielleicht, tiefes Rot wie glühendes Holz, das ist eine gute Farbe, wissen Sie, oder etwas Blaues! Nachtblau oder indigo, himmelblau, lilablassblau …«
    Die Frau entfernte sich, noch immer kopfschüttelnd, und Clara sah ihr nach. Sie wollte lachen, aber sie fühlte sich elend.
     
    Als sie langsam zurück in Richtung Kanzlei ging, kam ihr eine Gestalt entgegen. Eine große Gestalt im

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