Bruderschaft der Unsterblichen
Auerochs und Rhinozeros durchführen. Und die Schamanen wispern, hocken sich zusammen und flüstern, erzählen sich gegenseitig: Wir werden nicht sterben, Brüder, wir werden weiterleben, den Aufstieg Ägyptens aus den Überschwemmungen des Nils beobachten, die Geburt von Sumer, wir werden leben, um Sokrates, Caesar, Jesus und Konstantin zu sehen, und ja, wir werden immer noch vorhanden sein, wenn der schreckliche Pilz mit der Helligkeit einer Sonne über Hiroshima aufsteigt und wenn die Männer aus dem Metallschiff die Leiter hinunterklettern, um die Oberfläche des Mondes zu betreten. Doch hat Miklos wirklich nur das erzählt, oder habe ich das nur im Dunst der Mittagswüstenhitze geträumt? Alles ist so obskur; alles entgleitet, zerschmilzt und zerläuft, wenn sein labyrinthartiger Wortschwall sich um sich selbst dreht, verdreht, tanzt und verwickelt. Und siebartig und umschreibend erzählt er uns von einem verlorenen Kontinent, einer untergegangenen Zivilisation, der das Wissen der Bruderschaft entsprang. Und wir starren ihn an, mit großen Augen, tauschen untereinander kurze, erstaunte Blicke aus, wissen nicht, ob wir aus skeptizistischer Verachtung kichern oder vor Aufregung keuchen sollen. Atlantis! Wie hat Miklos das bloß angestellt, in unsere Hirne diese Bilder zu zaubern: ein glitzerndes Land aus Gold und Kristall, breite belaubte Alleen, hohe, weißwandige Gelände, leuchtende Kutschen, begnadete Philosophen in wallenden Roben, die Instrumente einer vergessenen Wissenschaft aus Messing, die Aura des wohltätigen Schicksals, das gellende Getöse einer fremdartigen Musik, die in Hallen von großen Tempeln, die unbekannten Göttern gewidmet sind, ein Echo wirft. Atlantis? Wie schmal ist doch der Grat, den wir zwischen Märchen und Blödsinn errichten! Ich habe nie gehört, daß Miklos den Namen auch nur ausgesprochen hat, aber er brachte mir Atlantis schon am ersten Tag in den Sinn, und mittlerweile wächst in mir die Überzeugung, daß ich damit richtig liege, daß er tatsächlich für die Bruderschaft eine Herkunft aus Atlantis beansprucht. Was haben diese Totenschädelembleme auf der Fassade des Tempels zu bedeuten? Und was diese juwelenbesetzten Schädel, die als Ringe oder Anhänger in der Großen Stadt getragen werden? Wer sind diese Missionare in den rotbraunen Roben, die über das Festland zu den Ansiedlungen in den Bergen ziehen? Sie verwirren die Mammutjäger mit ihren Blitzen und Pistolen, halten den heiligen Totenschädel hocherhoben und rufen den Höhlenbewohnern zu, zu Boden zu sinken und sich hinzuknien. Und die Schamanen in den bemalten Höhlen, die an ihren funkensprühenden Feuern zusammenhocken, flüstern, geben nach, gewähren den strahlenden Fremden größte Achtung, verbeugen sich, küssen den Totenschädel und vergraben ihre eigenen Idole: die fettschenkligen Venusfiguren und die zurechtgeschnittenen Knochensplitter. Das ewige Leben gewähren wir euch, sagen die Neuankömmlinge, und sie zeigen eine leuchtende Tafel, auf der Bilder von ihrer Stadt, von Türmen, Kutschen, Tempeln und Juwelen schwimmen. Und die Schamanen nicken, sie kriechen mit dem Bauch auf dem Boden und gießen Wasser auf ihre heiligen Feuer. Sie tanzen, klatschen in die Hände und unterwerfen sich; sie unterwerfen sich, starren auf die leuchtende Tafel, töten das fett gewordene Mastodon und bieten ihren Gästen ein Festmahl in Brüderlichkeit an. Und so fängt alles an: die Allianz zwischen Inselleuten und Bergbewohnern in jenen Tagen. So hat es begonnen: der Fluß des Schicksals über das eisbedeckte Festland, das Erwachen, die Weitergabe des Wissens. Wenn dann das Erdbeben kommt, wenn der Vorhang weit auseinanderreißt und die Säulen wackeln und ein schwarzes Leichentuch über der Welt hängt, wenn die Prachtstraßen und Türme von der aufgebrachten See verschluckt werden, wird etwas weiterleben, wird etwas in den Höhlen überleben: die Geheimnisse, die Riten, der Glaube, der Totenschädel, der Totenschädel, der Totenschädel! War es so, Miklos? Und hat es sich so abgespielt, vor zehn-, fünfzehn- oder zwanzigtausend Jahren, in einer Vergangenheit, die abzustreiten wir es vorziehen. Welch eine Wonne, in jener Morgendämmerung gelebt zu haben! Und du lebst immer noch, Bruder Miklos? Du bist zu uns von Altamira gekommen, von Lascaux, selbst vom untergegangenen Atlantis, du und Bruder Antony und Bruder Bernard und alle anderen, ihr habt Ägypten überlebt, die Caesaren, habt dem Totenschädel eure Achtung bewiesen,
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