Bruderschaft der Unsterblichen
daß wir auf diese operettenhafte Weise das Haus der Schädel betreten sollten. Ich war auf m e lancholische Posaunen, Baßhörner und einen Chor aus Baßstimmen gefaßt, der hinter uns ein Requiem intonie r te: Pietatis fons, me salva, gratis salvas salvandos qui, majestatis tremendae rex. Über uns eine Öffnung. Mit gebeugten Knien krochen wir darauf zu. Wieder Stufen. Hinauf. Einer nach dem anderen kamen wir in einem ri e sigen, viereckigen Raum heraus, dessen Wände aus ki e sigem blassem Sandstein bestanden. Es gab kein Dach, nur ungefähr ein Dutzend dicker schwarzer Balken, die in Intervallen von etwa einem Meter angebracht waren und so das Sonnenlicht und die stickige Hitze einließen. Der Boden des Raums bestand aus purpurgrünem Schi e fer, die Oberfläche war irgendwie ölig und poliert. In der Mitte befand sich ein faßähnlicher Springbrunnen aus grünem Jade, von dem sich eine ungefähr einen Meter hohe menschliche Figur erhob; der Kopf der Figur war ein Totenschädel, aus dessen Kiefern sich unaufhörlich ein dünner Wasserstrom ergoß und ins darunterliegende Bassin plätscherte. In den vier Ecken des Raumes sta n den hohe Steinstatuen im Maya- oder Aztekenstil, die Männer mit geschwungener, abgebogener Nase, dünnen, graus a men Lippen und immensen Ohren-Ornamenten darg e stellt. Gegenüber dem Ausgang aus dem unterird i schen Gewölbe befand sich eine Tür, in deren Rahmen ein Mann so bewegungslos stand, daß ich ihn zuerst ebe n falls für eine Statue hielt. Als wir alle vier in dem Raum versammelt waren, sagte der Mann mit tiefer, volltöne n der Stimme: „Guten Tag! Ich bin Bruder A n tony.“
Er war klein, untersetzt, kaum mehr als ein Meter sechzig groß und trug nur eine Hose aus grobem Drillich, die ihm bis zur Mitte der Oberschenkel reichte. Seine Haut war tief gebräunt, eine Farbe fast wie Mahagoni, und das Gewebe schien aus sehr feinem Leder zu sein. Sein breiter, hochstirniger Schädel war völlig kahl, noch nicht einmal um die Ohren herum befand sich eine Spur von Haarwuchs. Sein Hals war kurz und dick, die Schu l tern waren breit und kraftvoll, die Brust war athletisch, Arme und Beine waren wahrhaft muskelbepackt: Er machte ganz den Eindruck von überwältigender Kraft und Gesundheit. Seine ganze Erscheinung und seine Ausstrahlung von Qualifikation und Macht erinnerte mich auf ganz außergewöhnliche Weise an Picasso: ein kleiner, kräftiger, zeitloser Mensch, der alles ertragen kann. Ich hatte keine Vorstellung, wie alt er wohl sein mochte. Ganz sicher nicht mehr jung, aber auch weit en t fernt von der Schwäche des Alters. Fünfzig? Sechzig? Ein rüstiger Siebziger? Seine Alterslosigkeit war das verwirrendste an ihm. Er schien von der Zeit gänzlich unberührt, überhaupt keine Abnutzungserscheinungen: So, dachte ich, muß ein Unsterblicher aussehen.
Er lächelte freundlich, zeigt dabei große, lückenlose Zahnreihen und sagte: „Ich bin ganz allein hier, um Sie zu begrüßen. Wir erhalten nur selten Besuch und erwa r ten ihn deshalb auch nie. Die anderen Brüder arbeiten auf den Feldern und werden vor der Nachmittagsandacht nicht zurückkehren.“ Er sprach ein perfektes Englisch in einer eigentümlich leblosen, akzentfreien Art, einen IBM-Akzent, um es einmal so zu umschreiben. Seine Stimme war fest und wie Musik, seine Worte kamen g e lassen und selbstsicher. „Bitte, seien Sie willkommen, solange, wie Sie bleiben wollen. Wir haben die Möglic h keit, Gäste unterzubringen, und laden Sie ein, hier bei uns in unserer Zufluchtsstätte zu wohnen. Beabsichtigen Sie, länger als einen Nachmittag zu bleiben?“
Oliver starrte mich an. Timothy. Ned. Ich war also der Sprecher. Ein eigenartiger Geschmack in meiner Kehle. Die Absurdität, die blanke Lächerlichkeit dessen, was ich sagen sollte, kam mir zu Bewußtsein und versiegelte meine Lippen. Ich spürte, wie meine sonnenverbrannten Wangen von der Schamröte überzogen wurden. Kehre um und fliehe, kehre um und fliehe, kreischte eine Sti m me zwischen meinen Ohren. Zurück in das Kaninche n loch. Lauf. Lauf. Lauf, solange du noch kannst. Ich zwang eine einzige, heisere Silbe heraus:
„Ja.“
„In diesem Fall erhalten Sie Zimmer. Wollen Sie mir bitte folgen?“
Er verließ den Raum. Oliver warf mir einen aufg e brachten Blick zu. „Sag’s ihm!“ flüsterte er scharf.
Sag’s ihm. Sag’s ihm. Sag’s ihm. Na los, Eli, sag’s. Was kann dir schon passieren? Schlimmstenfalls wirst du ausgelacht. Das ist doch nichts Neues
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