Bruderschaft der Unsterblichen
waren zu eleganten, greulichen S-Kurven verdreht, ihre Spitzen schoben sich nur gerade durch die Zähne hinaus und zuckten wie die gespaltene Zunge einer Schlange. Dutzende dieser vielfältigen Schädel, offensichtlich alle nach dem gleichen Vorbild, eingefroren in der gleichen Miene, einer nach dem and e ren verschwanden sie allmählich um die Ecken des G e bäudes aus dem Sichtfeld; sie waren vom gleichen al p traumhaften Aussehen, wie ich sie in den meisten präk o lumbianischen Kunstwerken entdeckte. Sie würden be s ser dorthin passen, dachte ich, wo sie als Begrenzung für einen Altar dienten, auf dem lebende Herzen mit Obsid i anmessern aus zuckenden Oberkörpern geschnitten wu r den.
Das Gebäude hatte eine U-Form mit zwei langen, u n tergeordneten Flügeln, die sich hinter dem Hauptteil au s streckten. Ich entdeckte keine Türen. Aber vielleicht fünfzehn Meter vor der Fassade ließ sich im Zentrum der freien Fläche der Eingang zu einem steinernen Gewölbe sehen: Gähnend tat er sich auf, dunkel und mysteriös, wie das Tor zur Unterwelt. Sofort wurde mir klar, daß dies der Durchgang sein mußte, der ins Schädelhaus führte. Ich ging darauf zu und spähte hinein. Nur Du n kelheit innen. Durften wir es wagen einzudringen? Sol l ten wir nicht warten, bis jemand herauskam und uns h i neinrief? Aber niemand ließ sich sehen, und die Hitze wurde unerträglich. Ich fühlte, wie meine Haut auf Nase und Wangen steif wurde und anschwoll, rot und glänzend als Zeichen des Sonnenbrands, nachdem die Blässe des Winters einen halben Tag lang dieser Wüstensonne au s gesetzt worden war. Wir starrten einander an. Das Neu n te Mysterium hämmerte in meinem Kopf, wahrscheinlich auch in den Köpfen der anderen. Wir können zwar alle hinein, aber nicht alle wieder heraus. Wer sollte weiterl e ben, wer sterben? Ich entdeckte, daß ich unbewußt Ka n didaten für den Tod bestimmte, meine Freunde ausbala n cierte, rasch Oliver und Timothy dem Tod übergab und dann davor zurückfuhr, um dieses allzu eilige Urteil noch einmal zu überprüfen, tauschte Ned für Oliver aus, Oliver für Timothy, Timothy für Ned, mich für Timothy, Ned für mich, Oliver für Ned, diesen mit jenem, unschlüssig, unbestimmbar. Mein Glaube an das Buch der Schädel ist nie stärker gewesen. Meine Gewißheit, an der Schwelle zur Unendlichkeit zu stehen, ist nie klarer und gleichze i tig erschreckender gewesen. „Los“, sagte ich heiser, me i ne Stimme kickste, und ich trat unsicher ein paar Schritte nach vorn. Eine steinerne Treppe führte steil in das G e wölbe hinein. Zwei Meter unter der Erde fand ich mich in einem dunklen Tunnel wieder, breit, aber mit niedriger Decke, höchstens anderthalb Meter hoch. Die Luft war kühl. Im fahlen Licht konnte ich Verzierungen an den Wänden erkennen: Schädel, Schädel, Schädel. Kein ei n ziges christliches Symbol war irgendwo in diesem sog e nannten Kloster zu erkennen, nur die Todessymbolik war allgegenwärtig. Von oben rief Ned: „Wie sieht’s da unten aus?“ Ich beschrieb den Tunnel und sagte ihnen, sie sol l ten mir folgen. Und sie stiegen herab, scharrend und u n sicher: Ned, Timothy, Oliver. Geduckt ging ich weiter. Die Luft wurde immer kühler. Bald konnten wir übe r haupt nichts anderes mehr erkennen als den purpurfarb e nen Dämmerschein vom Eingang. Ich versuchte, meine Schritte zu zählen. Zehn, zwölf, fünfzehn. Sicher befa n den wir uns jetzt unter dem Gebäude. Urplötzlich lag vor mir eine glänzende steinerne Barriere, ein einzelner Fel s block, der den Tunnel rundum ausfüllte. Erst im letzten Moment entdeckte ich ihn, als mir ein kalter Glanz in diesem fahlen Licht ins Auge fiel. Ich hielt inne, bevor ich auf ihn aufprallen konnte. Eine Sackgasse? Ja, ganz sicher, und im nächsten Moment würden wir hinter uns das Krachen eines zwanzig Tonnen schweren Steinbro c kens hören, der auf den Eingang zum Tunnel herabgela s sen worden war. Dann würden wir in der Falle sitzen, einem Hunger- oder Erstickungstod preisgegeben, wä h rend das Getöse vom Lachen der Mönche in unseren O h ren dröhnte. Aber nichts derart Melodramatisches g e schah. Probeweise preßte ich eine Handfläche gegen den kalten Stein, der uns den Weg versperrte, und der Effekt hätte aus Disneyland sein können, ein wunderbarer H o kuspokus – der Stein machte Platz, schwang sich sanft von mir weg. Er war perfekt ausbalanciert: Die leichteste Berührung genügte, um ihn zu öffnen. Das paßte ja haa r genau, dachte ich,
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