Bruderschaft der Unsterblichen
offensichtlich stark e r regt, schwitzend, stockend und stammelnd, wie Lyndon B. Johnson, der damit beginnt, seine Vietnampolitik vor einem Kriegsgericht zu rechtfertigen. Aber schon wenig später flossen die Worte frei heraus, so als ob Timothy sich diese Geschichte schon oft in Gedanken erzählt und sie so oft überarbeitet hatte, daß er sie mittlerweile ganz automatisch abrollen lassen konnte, nachdem die Wide r stände erst einmal abgebaut waren. Dieser Vorfall erei g nete sich, sagte er, vor genau vier Jahren in jenem Monat, als er in den Osterferien aus Andover nach Hause g e kommen war und seine Schwester ebenfalls vom Lyceum in Pennsylvania, das sie besuchte. (Zu dieser Zeit lag meine erste Begegnung mit Timothy noch fünf Monate in der Zukunft.) Er war achtzehn und sie ungefähr fün f zehneinhalb Jahre alt. Sie kamen nicht sonderlich gut miteinander aus, noch nie. Sie war ein Mädchen von der Sorte, deren Beziehung zu ihrem älteren Bruder sich i m mer auf dem Grad des Ungezogenseins von Katze und Hund bewegt hatte. Er hielt sie für außergewöhnlich u n gehörig und aufgeblasen, sie ihn für außerordentlich rüde und tierisch. In den vergangenen Weihnachtsferien hatte er ihre beste Freundin und Klassenkameradin gebumst, was seine Schwester herausbekommen hatte, und dieser Vorfall belastete beider Beziehung nur noch mehr.
Timothy machte gerade eine schwere Zeit durch. In Andover war er der mächtige und allgemein bewunderte Anführer, ein Football-Star, Klassensprecher, ein b e kanntes Symbol von Kraft und savoir faire; aber in w e nigen Monaten schon würde er sein Abitur machen und all sein angehäuftes Prestige wäre keinen Pfennig mehr wert, wenn er als Erstsemester unter vielen auf eine gr o ße, weltbekannte Universität ginge. Das war ein richtiges Trauma für ihn. Außerdem hatte er eine anstrengende und aufwendige Liebesaffäre mit einem Mädchen aus Radcliffe geführt, die ein oder zwei Jahre älter war als er. Er liebte sie nicht, sie war für ihn nur ein Statussymbol, das ihn in die Lage versetzte zu sagen, er bumse mit einer Studentin; aber er glaubte fest daran, daß sie ihn liebte. Kurz vor Ostern hatte er von dritter Seite erfahren mü s sen, daß sie ihn in Wirklichkeit für ein amüsantes Scho ß tier hielt, eine Art Oberschüler-Trophäe, die sie unter der immensen Anzahl ihrer Harvard-Bekanntschaften zur Schau stellen konnte; ihr Verhältnis zu ihm war kurz g e sagt noch zynischer als seines zu ihr. So kam er in di e sem Frühling ziemlich niedergeschmettert in die heima t lichen Gefilde; ein Gefühl, das für ihn neu war. Doch plötzlich schwamm er wieder in einer neuen Quelle des Hochgefühls. In seiner Heimatstadt lebte ein Mädchen, das er liebte, das er wirklich liebte. Ich weiß nicht, was Timothy unter „Liebe“ versteht, aber ich glaube, er we n det diesen Begriff auf jedes Mädchen an, das seinen Kr i terien von Aussehen, Reichtum und Geburt entspricht und ihn nicht mit ins Bett nimmt. Das macht sie une r reichbar, das stellt sie auf ein hohes Podest, und deshalb redet er sich selbst ein, er „liebe“ sie. Auf eine gewisse Weise eine donquichottische Vorstellung. Dieses Mä d chen war siebzehn und gerade in Barnington aufgeno m men worden; sie entstammte einer Familie, die eine be i nahe so erlesene Herkunft aufweisen konnte wie die von Timothy. Sie war eine olympiareife Pferdesportlerin, und, wie Timothy sagte, hatte den Körper eines Playm a te-of-the-Year. Er und sie gehörten demselben Club an, und er hatte mit ihr schon seit der Kindheit getanzt und Tennis gespielt; aber seine gelegentlichen Versuche, ihre Bekanntschaft zu intensivieren, waren immer geschickt abgebogen worden. Er war derart besessen von ihr, daß er sogar daran dachte, sie eines Tages zu heiraten, und er gab sich der Illusion hin, daß sie ihn bereits zum zukün f tigen Gatten erkoren habe; deshalb, so schloß er, ließ sie ihn auch nicht an sich heran, da sie wußte, daß er der Doppelmoral frönte, und sie befürchtete, er würde sie nicht mehr als heiratsfähig ansehen, wenn er zu früh auf sie hinaufklettern dürfte.
Die ersten Tage zu Hause rief er sie jeden Nachmittag an. Höfliche, freundliche, unverbindliche Konversation. Sie schien zu einem Rendezvous nicht bereit zu sein – solche Treffen waren in ihrer Clique ohnehin nicht g e bräuchlich –, aber sie sagte ihm, sie werde ihn beim Tanz im Club am Samstagabend sehen. Timothy machte sich große Hoffnungen. Der Tanzabend war eine ganze fo
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