Bruderschatten
Wenn mein Bruder ein Mörder ist, dann …« Ich sah ihn an.
»Schon gut«, sagte Konrad und lockerte seinen Griff. »Lass mich eine Nacht drüber schlafen.«
»Die Zeit habe ich nicht«, sagte ich. »Und ihr seid da schon mal eingebrochen, oder denkst du, ich weiß das nicht? Ihr wolltet erst in Adams Praxis Äther klauen. Aber dann habt ihr ihn doch im Krankenhaus geklaut, weil ihr zu viel Respekt vor Adam hattet. Der Äther war für den Spitz unserer Nachbarin gegenüber. Der hatte nämlich den Fehler seines Lebens begangen und Leo in die Wade gebissen.«
Konrad lachte. »Wir haben ihn betäubt.«
»Habt ihr nicht. Leo hatte mir versprochen, dass ihr es nicht tut.«
»Haben wir trotzdem. Er taumelte besoffen durch den Garten und wusste nicht mehr, wo vorne und hinten war. Leo und ich haben uns fast in die Hose gemacht vor Lachen.« Bei der Erinnerung lachte er noch mehr. Dann sah er betreten zum Küchenfenster, wo seine Frau immer noch stand und uns beobachtete. Er winkte ihr zu. Sie drehte sich um und ging weg.
»Du wirst nicht dabei sein«, sagte Konrad, als er mich wieder ansah. »Ich weiß auch nicht, wie ich unbemerkt bei der Polizei einsteigen soll. Dort ist dieses riesige Tor zur Straße hin, das abends geschlossen wird. Es wird nur bei Einsätzen geöffnet.«
»Du kannst von der Mauer des Burggartens aus einsteigen. Das haben wir als Kinder doch auch gemacht.«
»Julie, das Ganze ist wahnwitzig. Ich bin Geschäftsmann. Ich leite das Unternehmen meines Vaters, meine Frau ist mit unserem zweiten Kind schwanger, und jetzt soll ich wie ein jugendlicher Halbstarker bei der Polizei und ins Krankenhaus einsteigen? Was passiert, wenn sie mich erwischen?«
»Sie haben euch früher auch nicht erwischt.«
»Und weshalb waren wir dann im Jugendwerkhof?«
»Das weißt du nicht?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Sie haben Leo und mich auf frischer Tat ertappt.«
»Du weißt ehrlich nicht, dass Hinner euch denunziert hat?«
»Wer behauptet das?«
Meine Mutter, dachte ich, und dann fragte ich mich, warum weder mein Vater noch Leo noch ich sie je gefragt hatten, woher sie das wusste. Ich fragte mich auch, ob mein Vater sich nicht irrte, wenn er annahm, dass Eddies Affäre mit Paul Heinecken nur ein Jahr gedauert hatte. Vielleicht hatten Eddie und Paul schon ein Verhältnis, als Leo und Konrad verhaftet wurden. Vielleicht hatte Paul mit seinen Verbindungen es schon vorher erfahren und Eddie vorab informiert. Vielleicht hatte Paul ihr eingeredet, dass es keinen anderen Weg mehr gäbe und dass nur so Schlimmeres verhindert werden könnte. Vielleicht hatte sie ihm das geglaubt.
Es waren viel zu viele Unwägbarkeiten, zu viele Vielleichts, und so sagte ich: »Vergiss es. Es waren nur Gerüchte.«
Er schüttelte verständnislos den Kopf.
»Dein Vater hat den neuen Krankenhauskomplex gebaut. Im Keller unter der Notaufnahme bewahrt Bea Rudolf die Originale der Obduktionsberichte auf. Du musst nur reingehen und die Berichte mit einer Digitalkamera fotografieren. Du sollst ja nichts stehlen. Es dauert nicht länger als zehn Minuten. Und vielleicht reichen die Berichte ja aus, und wir müssen gar nicht mehr ins Polizeirevier einsteigen.«
»Ich muss drüber nachdenken, bitte.«
»Ich werde heute Nacht um zwei am Krankenhaus sein. Du weißt schon, bei den alten Büschen«, sagte ich. Ich schickte ein »Bitte« hinterher. Und: »Ich bitte dich. Wenn du es dir doch anders überlegst, ruf mich an. Es ist dieselbe Nummer wie vor zehn Jahren. Hast du sie noch?«
Konrad nickte. »Gut. Aber wenn Leo der Mörder meiner Schwester ist, werde ich ihn drankriegen. Und du wirst es nicht verhindern.«
Es klang wie ein fairer Deal.
46
Es war längst dunkel, als ich auf der Heimfahrt an Laurens Haus vorbeikam. Ich sah Licht hinter den heruntergelassenen Jalousien. Ich hatte keinen Plan. Ich bremste, schnappte meine Tasche mit dem Kassettenrekorder und stieg aus dem Wagen.
»Bin gleich zurück«, sagte ich zu Gregor Patzig, der wieder einmal hinter mir parkte und seinen Kopf neugierig aus dem Seitenfenster steckte.
Ich klingelte, und sie riss kurz darauf die Tür auf, als hätte sie dahinter gelauert.
Mit aufgeregter Stimme blaffte sie, sie hätte mir nichts mehr zu sagen, und schlug mir die Tür vor der Nase zu.
Es reichte mir langsam. Ich klappte den Briefschlitz auf und erhaschte einen Blick auf ihre Jeansbeine, bevor sie zur Seite trat.
»Hat dein Stiefvater dich missbraucht, Lauren?«, rief ich durch den
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