Bruderschatten
so vielen anderen Mädchen widerfahren war. Ob Lauren deshalb so mürrisch, so zurückhaltend, so schüchtern gewesen war. Und während ich dem Band ein zweites Mal lauschte, fragte ich mich auch ein zweites Mal, ob es Anzeichen gegeben hatte. Ob wir es hätten wissen können. Ob wir nicht bösartig gewesen waren, indem wir sie ausgegrenzt, sie allein gelassen und uns nicht um sie gekümmert hatten.
Es gab viele offene Fragen, und nur auf eine hatte ich die Antwort: Lauren war mir während meiner Schulzeit gleichgültig gewesen. So einfach war das – und so schwer.
Das Band endete.
»Das ist nicht Paul«, sagte Cornelius. »Jede Wette.«
»Was ist mit Hinner?«, fragte ich.
»Hinner?« Er schüttelte den Kopf. »Das Band ist von 1989. Da war er doch längst mit seiner Frau zusammen. Wieso sollte er seiner Schwester da noch so etwas antun?«
»Missbrauch findet zu 80 Prozent innerhalb der Familien oder durch Bekannte statt«, sagte ich. »Anfang der neunziger Jahre ging man davon aus, dass acht von 100 Frauen vor ihrem 16. Lebensjahr Missbrauchserfahrungen gemacht haben. Acht«, wiederholte ich. »Wir waren 15 Mädchen in der Klasse. Statistisch kommt das hin.«
»Hör auf mit Statistiken. Die bringen uns keinen Deut weiter.«
»Heute sind es nur noch etwa sechs auf 100«, fuhr ich unbeeindruckt fort. »Ich nehme an, das liegt an der Aufklärung und an der Bereitschaft der Mädchen, einen sexuellen Übergriff eher anzuzeigen.«
Es entstand eine seltsame Pause, während der er mich ansah. »Alle Männer sind Schweine? Und kein Schwein ruft dich an? Ist es das?«
Ich schüttelte den Kopf. »Schieb es nicht auf die Schiene. Es geht hier nicht darum, was ich denke.«
»Tut mir leid«, sagte er. »Also, was meinst du?«
»Erinnerst du dich, wie Hinner Lauren früher immer zu Hilfe kam?«, fragte ich. »Weißt du noch, wie sie sich manchmal, als wir schon zehn oder elf waren, noch auf den Schulhof warf und schrie, wenn sie jemand ärgerte?«
Cornelius nickte. »Hinner musste nur auftauchen und diese Bewegung mit dem Kopf und den Schultern machen. Kopf wie ein Habicht nach vorn, Schultern wie ein Feldwebel nach hinten und Brust raus. Wenn er dann noch diesen starren Blick aufsetzte, brauchte er nicht mal was zu sagen. Man verschwand einfach so schnell wie möglich aus seinem Blickfeld in die hinterste Ecke des Schulhofs.«
»Genau«, sagte ich. »Das hatte er von Paul. Wenn der wütend war, starrte er einen auch an, als würde er einem die Eingeweide mit den Augen raussaugen.«
Ich erinnerte mich an ein Gespräch mit Eddie. Sie erzählte mir, dass Hinner es anfangs gewohnt war, der Mittelpunkt im Leben seiner Mutter zu sein. Dann kam Lauren, und der fünfjährige Hinner musste sich mit einer Nebenbuhlerin abfinden. Lauren war als Baby sehr hübsch, ihr Gesicht von zarter Porzellanblässe, darüber lagen dunkelbraune Locken. Sie hatte wie ihr Bruder blaue Augen, und alle verliebten sich damals in sie.
Mit sechs Jahren bekam Hinner Windpocken, und er behielt ein paar sichtbare Narben im Gesicht zurück. Ich erinnerte mich nicht, ihn während meiner Schulzeit jemals mit einem Mädchen gesehen zu haben. Vielleicht lag es an den Narben, vielleicht aber auch an dem stechenden Blick, dass die Mädchen nicht mit ihm ausgingen. Bei einigen lag es sicherlich auch daran, dass Paul Grenzoffizier bei der NVA war und viele Angst vor ihm hatten. Denn Paul verkörperte Macht und Einfluss und ließ keine abweichende Meinung gelten.
Aber da war noch etwas, wie ich mich nun wieder erinnerte. Als wir älter wurden, benahm Hinner sich uns Mädchen gegenüber einerseits unbeholfen und schüchtern, andererseits kompensierte er seine Unsicherheit mit einer Großspurigkeit, die uns auf die Nerven ging. Dann lud er Jungs wie Mädchen in die Eisbar am Neuperver Tor ein und warf mit seinem angeblichen Taschengeld um sich, als gäbe es kein Morgen. Wahrscheinlich war es das Geld aus den Einbrüchen.
In der dritten Klasse blieb Hinner sitzen und kam zu Leo in die Klasse. Paul fühlte sich blamiert und prügelte seinen Stiefsohn halb tot. Auch das wusste ich von Eddie. Später bereute Paul es zutiefst, denn Hinner vertraute ihm nie wieder, und Eddie vermutete, Hinner hätte Paul bis zu dessen Tod gehasst.
Die Demütigung, sitzen geblieben zu sein, weckte Hinners Ehrgeiz, und so begann er, sich zu einem der besten Schüler hochzuarbeiten, obwohl sein Geist alles andere als brillant war. Aber er war schlau, gerissen und geradezu manisch
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