Bruderschatten
Schlitz.
Sie riss die Tür wieder auf. Ihr Gesicht war blass, und ihre Züge waren brüchig wie gesprungener Marmor.
»Hat dein Stiefvater dich missbraucht, Lauren?« Sie imitierte eine hohe Kinderstimme und schüttelte den Kopf wie ein Wackeldackel auf einer Buckelpiste. Schon beim nächsten Satz nahm ihre Stimme eine zynische Tonlage an: »Das hättest du wohl gern, oder? Damit du so richtig im Dreck anderer Leute wühlen kannst. Das brauchst du mit deinem ganzen verpfuschten Leben doch wie ein Alkoholiker die Flasche.«
Ich kannte Lauren von klein auf, wie ein Kind ein anderes eben kennt, das in derselben Straße wohnte, in dieselbe Klasse ging und immer abseits stand.
Ich vermute, solche Kinder findet man in jeder Schule und in jeder Klasse. Es waren jene, die beim Sport immer als Letzte in die Volleyball- oder Fußballmannschaft gewählt wurden, nach Schulschluss immer allein nach Hause gingen und immer gehänselt wurden. Ich hatte Lauren nie gehänselt, aber ich hatte auch nichts dagegen unternommen, wenn es andere getan hatten. So mutig war ich in der Schule nicht. Es gab jedoch auch eine Seite an Lauren, die uns früher immer überrascht hatte. Fühlte sie sich in den ersten Schuljahren in die Ecke gedrängt, so warf sie sich auf den Boden, schlug mit den Armen um sich, strampelte mit den Beinen und brüllte nach ihrem Bruder Hinner.
Und später? Ich wusste wirklich nicht viel von ihr, aber an eines erinnerte ich mich genau. Eine Zynikerin war sie nie gewesen. Zurückhaltend? Ja. Schüchtern bis zur Selbstverleugnung? Ja. Mangelndes Selbstbewusstsein? Großes Ja. Wenig Selbstwertgefühl? Eindeutig. Aber eine Zynikerin? Nein.
Sie hatte den Satz kaum beendet, da tat sie etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Sie schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Ich schrie erschrocken auf, hielt mir die Wange und starrte auf die Eingangstür, die sie vor mir zuknallte. Die Tür vibrierte in den Angeln.
»Ich kenne den Inhalt des Tonbands«, sagte ich zu der Tür und hatte keine Ahnung, ob Lauren mich hörte.
Gregor Patzig rannte durch den Garten auf mich zu. Er fragte, ob er etwas tun könne. Er sagte, ich solle endlich Vernunft annehmen und die Leute in Ruhe lassen. Er sagte, hören Sie auf, beweisen zu wollen, dass Ihr Bruder unschuldig ist. Kümmern Sie sich um sich selbst. Das hatte mir schon mal jemand geraten. Auf einem Zettel. Mit einer Drohung. Und mein Vater hatte es mir auch empfohlen.
Gregor Patzig brachte mich zu meinem Auto.
Adam saß mit den Kindern und Cornelius beim Essen in der Küche.
Bratkartoffeln und Buntbarsch. Auch das konnte er wie kein Zweiter. Sie hatten mir Bratkartoffeln übrig gelassen, und Adam briet sie für mich noch einmal an. Der Fisch wartete in der Backröhre bei fünfzig Grad, mein Vater angelte ihn heraus und legte ihn mir zusammen mit einem Berg knuspriger, goldgelber Kartoffeln auf den Teller. Ich sah den Blicken der anderen an, dass sie dasselbe dachten wie ich: Das würde ich niemals schaffen.
Nachdem der erste Heißhunger gestillt war, öffnete ich den obersten Jeansknopf und aß ungerührt weiter. Es war zu köstlich, und alles andere war mir gerade egal.
»Hör auf zu grinsen«, sagte ich zu Cornelius, der mir halb spöttisch, halb bewundernd zusah, und schob mir eine neue Gabel Kartoffeln in den Mund.
»Die Menge hab nicht mal ich runtergekriegt«, sagte er, und Chris stieß Max den Ellenbogen in die Rippen.
Ich hätte mich fast verschluckt, und meiner Kehle entrang sich ein Laut, als würde ein Vergaser zünden. Cornelius’ Gesicht verschwand hinter einem Glas Bier, und Max und Chris grienten noch breiter, als ich meinen zweiten Jeansknopf mit einem »Sorry« öffnete, durchatmete und ungerührt weiteraß.
»Sie braucht das«, sagte mein Vater zu den Kindern.
»Die Nerven«, sagte ich. »Essen beruhigt.«
»Nicht zu fassen«, sagte Cornelius, und ich war mir nicht sicher, ob er meinte, nicht zu fassen, dass du so viel essen kannst, oder nicht zu fassen, dass du deinem Sohn nicht endlich erzählst, was mit dir los ist.
»Wenn sie so weitermacht«, sagte Max trocken, »schwappt im Sommer das Schwimmbecken über …«
»… und Kinder werden ertrinken«, sagte Chris ernst.
»Jetzt reicht’s«, sagte ich, schluckte die letzte Bratkartoffel runter, wischte mir den Mund ab, nahm einen Schluck Wasser und verkündete: »Wir bekommen ein Baby.«
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Ich hatte auch das nicht geplant, und ich hatte nicht vorgehabt, es
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