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Bruderschatten

Bruderschatten

Titel: Bruderschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
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Max vor allen anderen zu erzählen.
    Mein Sohn sah mich schweigend an. Durch seine Augen stürzten Fragezeichen.
    »Wir?«, fragte Cornelius, doch ich beachtete ihn nicht. Ich behielt Max im Blick.
    »Wann?«, fragte Max.
    »In sechs Monaten. Wahrscheinlich Ende Juni.«
    »Cool«, sagte Max, und die Fragezeichen in den Augen verblassten.
    »Es wird ein Mädchen.«
    »Cool. Ich kriege eine Schwester.« Freude in den Augen.
    »Freust du dich?«
    »Cool. Ich werde ein großer Bruder.« Noch mehr Freude.
    Chris machte ein ernstes Gesicht. Er dachte angestrengt nach. »Wo ist der Papa?«, fragte er dann.
    Max schaute mich an und nickte. »Ist Alex der Papa? Wird er jetzt auch meiner?«
    Mir stockte das Herz. »Nein«, sagte ich und sah hilfesuchend von meinem Vater zu Cornelius.
    »Nein?«, fragte Adam.
    »Nein«, sagte ich mit meiner geschmeidigsten Stimme. »Alex ist nicht der Papa.«
    »Mädchen, Mädchen.« Mein Vater schüttelte den Kopf.
    »Bin ich’s?«, fragte Cornelius, und die Köpfe der Kinder fuhren zu ihm herum. Ich saß mit offenem Mund da und schaute meinen Vater hilflos an. Der zuckte mit den Achseln, sagte tiefsinnig »Tja«, stand auf und räumte den Tisch ab.
    »Erzähl nicht so einen Schmarren«, sagte ich schließlich ärgerlich zu Cornelius.
    »Ich könnte es sein«, sagte Cornelius zu Chris, der seinen Vater ansah. Die Augen groß wie Tennisbälle, hatte er das Atmen vor lauter Aufregung kurz eingestellt. Dann ein lautes, erleichtertes Ausatmen: »Echt?«
    »Nein«, sagte ich. »Dein Vater und ich sind Freunde. Freunde kriegen keine Kinder zusammen.«
    »Aha«, sagte Cornelius. »Es war nur ein Scherz«, sagte er dann zu Chris und kniff grinsend ein Auge zu.
    »Sie müssten zusammen in einem Bett schlafen«, erklärte mein Sohn.
    »Haben sie aber nicht«, sagte Chris und nickte wissend.
    »Werden wir auch nicht«, sagte ich, stand auf und räumte gemeinsam mit meinem Vater den Geschirrspüler ein.
    »Meine Oma sagt, mein Papa braucht eine Frau ohne Mann mit einem Kind«, sagte Chris, als ich gerade das letzte Glas reinstellte. Ich fuhr hoch.
    »Das finde ich auch«, sagte mein Vater.
    »Unsere Oma ist eine schlaue Person«, sagte Cornelius.
    »Wie geht es ihr?«, fragte ich, fast glücklich, das Thema wechseln zu können. »Hat sie immer noch Fieber?«
    »Nein«, antwortete Cornelius. »Der Arzt sagt, sie hätte Glück gehabt, dass es keine Lungenentzündung geworden ist. Sie ist heute früh das erste Mal seit zehn Tagen wieder aufgestanden.«
    »Grüß sie. Ich hab gestern völlig vergessen, dass du sie grüßen sollst.«
    »Ich hab sie trotzdem von dir gegrüßt. Heute geht’s nicht. Wir fahren gleich von hier aus zurück nach Hamburg«, sagte er, und Chris nickte.
    »Wir kommen nächstes Wochenende wieder und bleiben dann bis Silvester«, sagte Chris.
    »Wir bleiben auch bis Silvester«, sagte Max, und Chris nickte wieder.
    Nach dem Abendessen gingen Cornelius und ich in mein Zimmer und setzten uns auf mein Bett, den Rücken an die Wand gelehnt, wie ich es erst zwei Abende zuvor mit Alex getan hatte. Alex, der so dicht und warm neben mir gesessen hatte. Alex, dieser Feigling. Er lauerte noch immer wie ein Dieb in einer dunklen Nische meines Gehirns, jederzeit bereit, meine Aufmerksamkeit und mein Selbstbewusstsein zu stehlen, kaum dass ich die Kontrolle über mein Denken aufgab. Ich hasste es.
    Ich rutschte an die äußerste Kante des Bettes, schob Alex aus meinen Gedanken fort und spielte Cornelius das Band vor, das zwischen uns lag. Wir sahen einander nicht an, während das Band lief. Er hielt den Kopf gesenkt, fuhr sich ab und an mit der Hand übers Kinn und starrte konzentriert auf einen imaginären Fleck auf der Bettdecke. Wir saßen jetzt auf dem Bett wie zwei Fremde, die der Zufall zusammengeführt hatte. Der Abstand zwischen uns hätte nicht größer sein können.
    Ich hatte im Laufe der Jahre Hunderte Zeugenaussagen in Gerichtssälen gehört. Ich hatte Vergewaltigern gegenübergestanden und sie beobachtet. Ich hatte ihren Aussagen gelauscht oder denen ihrer Verteidiger. Ich hatte den Anklagen gelauscht. Ich war fähig, eine professionelle Distanz aufzubauen in Fällen, in denen ich persönlich nicht betroffen war, die Opfer nicht kannte und mich nicht fragen musste, ob wir vielleicht zu leichtgläubig, zu oberflächlich, zu selbstsüchtig gewesen waren. Ich überlegte, ob jemand Lauren unter unseren Augen missbraucht hatte. Ob er es wiederholt getan hatte und über Jahre hinweg, wie es

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