Bruderschatten
Mist wie Vergewaltigung und Mord abgeben. Ich hätte dich in deinem Zustand einfach nicht zu Koslowski fahren lassen sollen. Wenn du Neujahr zurückkommst, wirst du nicht mehr als Gerichtsreporterin unterwegs sein, bis das Baby da ist. Du …«
»Fein. Das besprechen wir, wenn es so weit ist«, unterbrach ich ihn und fühlte mich dennoch seltsam gut aufgehoben. »Und was war jetzt mit Rita? Weshalb hast du sie angerufen?«
»Hinner hat sie mal von der Schule nach Hause gebracht, als sie 15 und er 16 war. Sie mochte ihn nicht besonders, aber er tat ihr leid, weil kein Mädchen mit ihm zu tun haben wollte. Und sie kannte ja seinen Ruf und wusste, dass er und Leo und Konrad und Charles eine Bande waren. Deshalb hatte sie wohl auch ein bisschen Angst davor, ihm einen Korb zu geben.«
»Und?«
»Als sie durch den Park gingen, packte er sie plötzlich, zerrte sie in die Büsche und riss ihr die Bluse auf. Sie war vor Schreck wie gelähmt und wehrte sich nicht. Er starrte ihr auf die Brustwarzen und presste sich an sie, und sie spürte, dass er eine Erektion hatte. Sie hatte eine Heidenangst und dachte, er würde sie vergewaltigen. In dem Moment bellte in der Nähe ein Hund. Hinner ließ von ihr ab, zischte ihr zu, er würde sie umbringen, wenn sie auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verlor, und rannte davon. Am nächsten Tag in der Schule bekam sie eine Panikattacke. Doch als sie Hinner dann auf dem Schulhof traf, sah er zur Seite und tat so, als wäre nichts geschehen. Sie begriff, dass er genauso viel Angst vor ihr hatte wie sie vor ihm. Sie baute sich vor ihm auf und erklärte ihm, er solle sie nie wieder anfassen. Sollte er das jemals wieder wagen, würde sie ihn anzeigen. Solange er sie aber in Ruhe ließ, würde sie den Mund halten. Seither ließ er sie in Ruhe, und sie hielt ihren Teil der Vereinbarung ein.«
Wir schwiegen, und ich dachte über das nach, was ich gerade gehört hatte.
Leo hatte einem größeren Jungen das Handgelenk gebrochen. Hinner hätte fast eine Mitschülerin vergewaltigt. Beide hatten Einbrüche begangen, beide Erpressungen. Leo war schließlich im Jugendwerkhof gelandet, Hinner blieb auf freiem Fuß.
In allen Untersuchungen über Serientäter zeichnete sich immer ein Bild ab: frühe Gewaltbereitschaft und ein auslösendes Ereignis. Was, wenn Rita das auslösende Ereignis gewesen war und Hinner der Mann, den alle suchten? Es gab noch eine Gemeinsamkeit in den Lebensläufen wenn nicht aller, so doch vieler Sexualstraftäter: Sie wurden in ihrer Kindheit oder frühen Jugend selbst sexuell missbraucht. Leo war vergewaltigt worden, Hinner nicht. Wenn ich es sachlich betrachtete, könnte einer von ihnen der Nachahmungstäter sein und sowohl Claudia Langhoff als auch vor vier Monaten Vera Schnitter vergewaltigt und ermordet haben.
Meine Beine kribbelten, ich brauchte Bewegung und schob mich an Cornelius vorbei aus dem Bett.
»Hör zu«, sagte er und zog eine Uhr aus seiner Hosentasche, eine dunkelblaue Plastikarmbanduhr mit leuchtend blauem Zifferblatt und schwarzer Schrift. »Ich möchte eigentlich, dass du mit nach Hamburg zurückkommst, bis der Spuk hier vorbei ist. Ich weiß, dass Carsten Unruh will, dass du hierbleibst. Wir wissen beide, dass du auch so bleiben würdest. Aber ich will, dass du die Uhr trägst. Wenn nicht für deine Sicherheit, dann für die deines ungeborenen Kindes und für Max.«
»Bist du verrückt?«
»Es ist eine GPS-Kinderuhr. Normalerweise ist sie für Eltern, die Angst haben, dass ihre Kinder entführt werden oder irgendwo verlorengehen. Robert hat sie gestern besorgt und programmiert. Ich hab sie mir mit einem Overnight-Kurier aus Hamburg kommen lassen. Man kann durch sie Infos übers Handynetz empfangen und senden. Ich fahre nachher, und ich möchte, dass dir nichts passiert. Solange du sie trägst, kann ich jederzeit verfolgen, wo du bist, denn sie berechnet deine Koordinaten. Nur musst du sie tragen. Können wir uns darauf einigen?«
Ich sah zu ihm hinunter, und was ich sah, gefiel mir nicht. Cornelius blickte ernst und sah besorgt aus.
Ich nickte, und dann band ich meine Jaeger-LeCoultre Reverso ab, legte sie auf den Nachtschrank und ersetzte sie durch dieses unübersehbar blinkende Plastikungetüm.
Wir gingen nach unten und spielten gemeinsam mit meinem Vater und den Kindern Scrabble mit altmodischen, abgewetzten Holzsteinen, die noch von mir und Leo in unserem Spielfach im Wohnzimmerschrank lagen.
Cornelius lag beim Scrabbeln weit vorn. Ich
Weitere Kostenlose Bücher